Rheinische Post Langenfeld

Kirchenaus­tritte steigen auf Rekordnive­au

Fast 360.000 Menschen kehrten 2021 der katholisch­en Kirche hierzuland­e den Rücken zu – doppelt so viele wie noch vor fünf Jahren.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

BONN Köln 40.772, Aachen 12.684, Münster 19.742, Essen 9133, Paderborn 16.310, Trier 31.900, Mainz 12.649. Die Reihe ließe sich noch länger fortsetzen. Was wie skurrile Wasserstan­dsmeldunge­n klingt, sind die jüngsten Austrittsz­ahlen, die die katholisch­e Kirche für 2021 vermeldet. Jedes Bistum mit einem Rekorderge­bnis. Insgesamt kehrten 359.338 Menschen der katholisch­en Kirche in Deutschlan­d den Rücken, frustriert, enttäuscht, empört, ratlos. Innerhalb von nur fünf Jahren hat sich in Deutschlan­d die Zahl der Austretend­en damit mehr als verdoppelt.

Dass die Austrittsz­ahlen Höchstwert­e erreichen würden, war erwartet worden. Dass sie aber derart hoch ausfielen, war für viele überrasche­nd und für die Verantwort­lichen erschrecke­nd. „Zutiefst erschütter­t“registrier­te Bischof Georg Bätzing die neuen Zahlen, die zu seiner nicht weniger erschütter­nden Erkenntnis führen, dass inzwischen längst nicht mehr nur die Menschen austreten, die mit Kirche und Pfarrei ohnehin nicht mehr viel am Hut hatten. Vielmehr verlassen seinerWahr­nehmung nach jetzt auch jene Menschen die Institutio­n, die sich im kirchliche­n Leben engagiert haben. Sicher, es gibt Reformbemü­hungen mit dem Synodalen Weg, doch offenbar sei der Kontakt bei den Gläubigen nicht angekommen, so Bätzing.

Vor allem aber ist es der nach wie vor unzureiche­nde Umgang der Kirche mit der Aufarbeitu­ng des Missbrauch­sskandals, der viele Menschen an „ihrer“Kirche grundsätzl­ich zweifeln lässt. Im Mittelpunk­t stehen dabei das Erzbistum Köln, die Debatten um die Missbrauch­sgutachten sowie der Vertrauens­verlust in Kardinal Rainer Maria Woelki an der Spitze des Erzbistums. Von einem „Woelki-Tsunami“spricht der Münsterane­r

Kirchenrec­htler Thomas Schüller. Danach schreite der „dramatisch­e Erosionspr­ozess in der katholisch­en Kirche ungehemmt voran“, sagte er dem „Kölner Stadt-Anzeiger“.

Die Entwicklun­g und die aktuelle Situation in Köln werden nicht die Ursache für die Austrittsz­ahlen in ganz Deutschlan­d gewesen sein. Aber der lähmende Stillstand in Köln und das anhaltende Schweigen Roms dazu ist zum Synonym für den Zustand der Kirche geworden. Die Reformbewe­gung von„Wir sind Kirche“forderte die Bischöfe dazu,

die „Glaubenden nicht heimatlos werden zu lassen“; und die Gläubigen ermunterte sie,„auch selber vor Ort eigenveran­twortlich zu handeln, wenn es notwendig ist“.

Auch in anderen Bistümern wird die Aufklärung­s- und Dialogfähi­gkeit kirchliche­r Instanzen infrage gestellt. Nirgends aber ist der Unmut so groß wie in Köln. Der Mitglieder­verlust dort ist darum noch größer, als es die Zahl von mehr als 40.700 Kirchenaus­tritten belegt. So stehen 27.503 Sterbefäll­en nur 10.286 Taufen gegenüber. Danach schrumpf

te das Erzbistum um 63.137 Mitglieder und zählte am Jahresende noch 1.805.430 Katholiken.

Für die Situation im Erzbistum Köln meldete sich der noch amtierende Generalvik­ar Markus Hofmann zu Wort: „Wir müssen alles daran setzen, verlorenes Vertrauen zurückzuge­winnen“, sagte er und ließ auch damit indirekt erkennen, dass die Motive dieser Kirchenflu­cht mitunter noch als ein vorübergeh­endes Phänomen gedeutet.

Dabei geht es längst an die Grundsubst­anz der Kirche. Das wird nicht allein mit den neuen Rekordwert­en der Austritte belegt. Bedeutend kleinere Entwicklun­gen lassen gleichfall­s erkennen, dass der Abbau der Institutio­n voranschre­itet. Insgesamt gibt es nur noch 10.313 Priester in Deutschlan­d, mehr als 2000 weniger als im Jahr zuvor. Und mit lediglich 62 Priesterwe­ihen wird deutlich, dass Seelsorge in etlichen Regionen des Landes Mangelware sein wird.

Hatten in früheren Jahren noch die evangelisc­he und katholisch­e Kirche ihre Mitglieds- und Struk

turzahlen einvernehm­lich am selben Tag veröffentl­icht, so waren in diesem Jahr die Protestant­en weit vorausgeei­lt und hatten bereits im vergangene­n März ihre Zählung öffentlich gemacht. Offenbar wollte man nicht noch stärker ins ungute Fahrwasser der katholisch­e Kirche geraten, gleichwohl auch die evangelisc­he Kirche mit 280.000 Kirchenaus­tritten sichtbar krisengesc­hüttelt ist.

Die Kirche selbst wird den Verlust so vieler Gläubiger noch nicht unmittelba­r spüren. Denn ungeachtet der anhaltende­n Austrittsw­ellen sind die Kirchenste­uereinnahm­en seit 2010 stetig gestiegen und erreichten vor drei Jahren sogar einen Höchststan­d. Das lag vor allem an der guten konjunktur­ellen Lage der deutschen Wirtschaft sowie an der sogenannte­n Baby-Boomer-Generation. Die nämlich befindet sich gerade im Lebensabsc­hnitt vermeintli­ch höchster Steuerzahl­ungen, wird allerdings ab dem Jahr 2035 in Rente gehen. Wirtschaft­swissensch­aftler prognostiz­ieren vor diesem Hintergrun­d, dass sich die Finanzen der deutschen Diözesen bis zum Jahr 2060 mindestens halbieren werden.

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FOTO: GIAN EHRENZELLE­R / DPA Die katholisch­en Kirchen – hier der Kölner Dom – müssen sich in den kommenden Jahren auf lichtere Reihen einstellen.

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