Rheinische Post Langenfeld

Unsichtbar­er Ullrich

Am 15. Juli 1997 in Andorra versetzt der Rostocker Deutschlan­d in Radsport-Euphorie. Er gewinnt danach die Tour de France. Bis der tiefe Fall kommt: Doping, Alkohol, Drogen. 25 Jahre später bleibt er bei der Rundfahrt unerwünsch­t.

- VON STEFAN TABELING UND TOM BACHMANN

BERLIN (dpa) Im Rahmenprog­ramm der 109. Tour de France wird Jan Ullrich keine Rolle spielen.„Es ist nichts geplant“, teilte die Tour-Organisati­on auf Anfrage knapp mit. Wo rund um die 21 Etappen der Frankreich­Rundfahrt jedes Jahr die einstigen Größen und weniger Großen des Radsports geehrt, gefeiert und gewürdigt werden, ist für den früheren deutschen Radstar auch 25 Jahre nach dessen Triumph kein Platz. Als hätte es die Zeit, die als düsteres Kapitel im Zuge der Doping-Skandale in die Tour-Geschichte einging, nie gegeben.

Dabei hat Ullrich ein Jahrzehnt lang in den Duellen mit Lance Armstrong die Radsport-Fans nicht nur in Deutschlan­d in den Bann gezogen. „Voilà le Patron“, titelt das Tour-Organ „L‘Équipe“, nachdem der sympathisc­he Junge aus Rostock mit den rotblonden Haaren und den Sommerspro­ssen im Gesicht an einem Sommertag 1997 in Andorra-Arcalis die steilen Rampen unwiderste­hlich hinaufgest­ürmt ist und das Gelbe Trikot an sich gerissen hat.

Obwohl er im Telekom-Team eigentlich nur der Kronprinz von Titelverte­idiger Bjarne Riis ist. Doch Ullrich ist stärker, und als der Däne ihm das „Go“gibt, ist kein Halten mehr. „Das waren die schönsten Momente in meinem Leben als Sportliche­r Leiter“, sagt sein einstiger Mentor Rudy Pevenage der Deutschen Presse-Agentur rückblicke­nd. „Du kommst in ein anderes Leben zurück. Er war überall gefragt. Das hat das Leben von Jan verändert. Die Ruhe war weg. Es war unglaublic­h.“

Plötzlich ist Deutschlan­d im Radsport-Fieber. Jedes Jahr im Juli versammeln sich Millionen Menschen vor dem Fernseher und leiden stundenlan­g mit Ullrich, wenn es die Bergriesen in den Alpen und den Pyrenäen hinaufgeht. Ullrich ist Everybody‘s Darling, der Popstar auf zwei Rädern. Der Kumpeltyp, der im Winter auch mal gerne über die Stränge schlägt und ein paar Pfunde zuviel mit sich herumschle­ppt.

Sein Talent auf dem Rad ist nahezu einzigarti­g. Ullrich wird Olympiasie­ger, Weltmeiste­r, deutscher Meister. Aber die Tour gewinnt er nicht noch einmal, obwohl ihm die Experten wie Eddy Merckx fünf oder mehr Siege prophezeie­n. Ein gewisser Lance Armstrong steht ihm im Weg. „Ich denke, dass Jan von seinen sportliche­n Möglichkei­ten stärker war als Armstrong“, meint Pevenage.„Gut, Armstrong hatte auch einen anderen Charakter. Er hat sich die ganzen zwölf Monate auf den Radsport konzentrie­rt.“

Und es ist Ullrich, der Armstrong zu Höchstleis­tungen treibt. „Er hatte so viel Talent. Er machte mir Angst. Dieser Mann ließ mich früh aufstehen, er ließ mich früh zu Bett gehen“, sagte Armstrong in der ARDDokumen­tation„Being Jan Ullrich“.

Siebenmal gewinnt der wie besessene und vom Krebs geheilte Texaner die Frankreich-Rundfahrt – mit unerlaubte­n Mitteln, wie sich später herausstel­lt. Für Ullrich bleibt oftmals nur der zweite Platz. An seiner Beliebthei­t ändert dies nichts.

Als Armstrong aufhört, will Ullrich 2006 noch einmal auf den TourThron. Ein letzter Angriff für das große Ziel. Es bleibt ein unerfüllte­r Wunsch. In Spanien wird der Radstar bei der großangele­gten Operacion Puerto als Kunde des Dopingarzt­es Eufemiano Fuentes enttarnt. Ullrich wird noch vor der Tour aus dem Starterfel­d genommen, sein TMobile-Team zieht einen schnellen Schlussstr­ich. Der tragische Wendepunkt in Ullrichs Leben.

Es folgen umfangreic­he Ermittlung­en der Staatsanwa­ltschaft Bonn. Mit einem Schlag ist die Karriere beendet, Ullrich wird nie wieder als Profisport­ler auf das Rad steigen. Zu einer Sperre kommt es aber erst 2012 durch den Internatio­nalen Sportgeric­htshof Cas.

Auch privat liefert Ullrich NegativSch­lagzeilen. Wie 2014, als er in der Schweiz mit 1,8 Promille im Blut bei deutlich erhöhter Geschwindi­gkeit zwei Autos rammt. Ullrich kommt mit einer Bewährungs­strafe davon.

Mit seiner Frau und den Kindern zieht Ullrich nach Mallorca, doch nach 13 Jahren zerbricht die Ehe. Der Radstar bleibt alleine auf Mallorca zurück. Ein schockiere­ndes Video macht die Runde. Im Zuge eines Streits auf dem Nachbar-Grundstück von TV-Star Til Schweiger wird er vorübergeh­end in Polizeigew­ahrsam genommen. Ullrich kommt zurück nach Deutschlan­d, wo es zum nächsten Skandal kommt. In einem Frankfurte­r Luxus-Hotel gibt es eine handgreifl­iche Auseinande­rsetzung mit einer Escort-Dame.

Ullrich steht unter Alkohol- und Drogeneinf­luss. Es kommt zu einer Einweisung in eine Psychiatri­e. Ullrich ist ganz unten, bis sein alter Rivale Armstrong plötzlich auftaucht. „Das war unheimlich für mich. Ich sah einen Mann an einem Ort wie noch kein menschlich­es Wesen zuvor. (...) In so einem Zustand hatte ich noch keinen gesehen“, sagte Armstrong. Ullrich erholt sich wieder und berichtet später in Armstrongs Podcast: „Ich war auf dem Weg von Marco Pantani. Fast tot.“

Inzwischen lebt der mittlerwei­le 48-jährige Ullrich wieder in der Abgeschied­enheit von Merdingen, in der Nähe zu seinen vier Kindern. Es gibt Pläne für ein Bike-Zentrum, unter anderem mit seinem Freund und Geschäftsp­artner Mike Baldinger.Womöglich ein neues Standbein für Ullrich, der öffentlich­e Auftritte meidet.

Dies hält Pevenage für einen Fehler. „Ich hoffe nur, dass sich Jan in den nächsten Monaten viel mehr in der Öffentlich­keit zeigt. Am Ende hat er nichts getan. Belgien, Holland, Italien, Spanien - all die Leute wollen Jan Ullrich sehen.“Und das am liebsten so wie einst an jenem Sommertag in Andorra-Arcalis.

 ?? FOTO: GERO BRELOER/DPA ?? 15. Juli 1997, An
dorra-Arcalis: Jan Ullrich reißt beim Passieren des Zielstrich­s
jubelnd die Arme hoch. Er gewinnt die 10. Etappe der 84.
Tour de France und übernimmt
das Gelbe Trikot.
FOTO: GERO BRELOER/DPA 15. Juli 1997, An dorra-Arcalis: Jan Ullrich reißt beim Passieren des Zielstrich­s jubelnd die Arme hoch. Er gewinnt die 10. Etappe der 84. Tour de France und übernimmt das Gelbe Trikot.

Newspapers in German

Newspapers from Germany