Mission Azovstal
Sie waren geheim und lebensgefährlich, die Flüge zur Rettung ukrainischer Verteidiger aus dem Stahlwerk von Mariupol, bevor die Stadt erobert wurde. Die Geschichte eines der letzten dieser Einsätze.
KIEW (ap) Der ukrainische Heerespilot streicht mit seiner Hand über die Metallhaut seines Mi-8-Transporthubschraubers. Das macht er vor jedem Einsatz, es soll ihm und seiner Crew Glück bringen. Diesmal brauchen sie es mehr denn je: Ihr Ziel, ein von den Russen belagertes Stahlwerk in der Hafenstadt Mariupol, ist eine tödliche Falle, manch andere Hubschrauberbesatzung ist nicht zurückgekehrt.
Aber die Mission ist wichtig – ukrainische Soldaten, die letzten Verteidiger von Mariupol, sitzen in der Fabrik fest, ihre Vorräte schwinden, es gibt immer mehr Tote und Verletzte. Der 51-jährige Pilot, der sich nur als Olexander vorstellt, weiß, dass dieser Flug der schwierigste in seiner bislang 30-jährigen Karriere wird. Aber er geht das Risiko ein, weil er nicht will, dass sich die Azovstal-Kämpfer vergessen fühlen.
Seine Mission ist einer von sieben geheimen und hochgefährlichen Versorgungs- und Rettungsflügen zum Stahlwerk, die sich im März, April und Mai abspielten. Manche endeten in einer Katastrophe, alle wurden zunehmend riskanter, als russische Luftverteidigungsbatterien reagierten. Es ist noch nicht viel über die Einsätze bekannt; auch PräsidentWolodymyr Selenskyj hat sich erst geäußert, als die mehr als 2500 noch in Azovstal verbliebenen Verteidiger begonnen hatten, ihre Waffen niederzulegen. Er sprach von „heldenhaften Leuten, die wussten, dass es fast unmöglich sein würde“, und bestätigte: „Wir haben viele Piloten verloren.“
Journalisten haben anhand von Interviews mit zwei überlebenden Verletzten, einem an einer Mission beteiligten Militärgeheimdienstler
sowie vom ukrainischen Militär zur Verfügung gestellten Piloten-Interviews ein Bild von einer der letzten Missionen gezeichnet.
Während sich Olexander auf seinen Flug vorbereitete, erfuhr ein junger, schwer verwundeter Feldwebel mit dem Spitznamen Buffalo in den Tunneln unter dem zerstörten Stahlwerk, dass er möglicherweise ausgeflogen wird. Russische Mörsergranaten hatten sein linkes Bein
zerfetzt, es musste über dem Knie amputiert werden. Auch sein rechter Fuß und seine Kehle wurden verletzt. Wäre es nach Buffalo gegangen, hätte ein anderer seinen Platz im rettenden Hubschrauber eingenommen. Er wäre lieber rasch gestorben, um sich die Qualen zu ersparen, die er nach dem russischen Beschuss durchmachen musste, schilderte der 20-Jährige seine anfänglichen Gefühle nach der ver
heerenden Verletzung. Es geschah während eines Straßenkampfes in Mariupol am 23. März. Buffalo hatte einen russischen Panzer im Visier, um ihn mit einer Rakete zu zerstören, die man von der Schulter aus abfeuern kann. Aber er kam nicht dazu, wurde selbst angegriffen, schaffte es schwer blutend in ein nahe gelegenes Gebäude und „beschloss, dass es besser ist, in den Keller zu kriechen und dort still zu sterben“. Aber Freunde retteten ihn, und es vergingen drei Tage, bis Ärzte in einem Kellerbunker sein Bein amputieren konnten. Aber er schätzt sich in einem Punkt glücklich, wie er sagt: Sie verfügten noch über Betäubungsmittel. Buffalo erzählt auch von den vielen Tätowierungen, die er auf dem Bein hatte. Eine ist noch da, eine menschliche Figur, aber auch deren Beine sind verschwunden.
Nach der Operation wurde er ins Stahlwerk gebracht, einen Stützpunkt mit einem Labyrinth aus Untergrundtunneln und Bunkern – praktisch unbezwingbar. Aber es war hart. „Es gab einen ständigen Beschuss“, schildert Wladislaw Sahorodnij, ein 22-jähriger Korporal, dem eine Kugel bei Straßenkämpfen in Mariupol das Becken durchlöchert und einen Nerv zerfetzt hatte. Nach Azovstal gebracht, traf er Buffalo. Beide kannten sich schon, sie stammen aus derselben Stadt, Tschernihiw.
Sahorodnij wurde am 31. März ausgeflogen, nach drei gescheiterten Versuchen. Es war seine erste Reise mit einem Hubschrauber. Die Russen nahmen den Mi-8 unter Beschuss, schalteten eines der Turbinentriebwerke aus. Aber das andere hielt sie in der Luft, bis zur Landung in Dnipro nach einem nervenaufreibenden 80-minütigen Flug.
Buffalo war eine Woche später an der Reihe und fühlte sich schuldig: „Die anderen Kämpfer blieben hier, und ich verließ sie.“Aber um ein Haar hätte er seinen Flug verpasst. Ein Lastwagen hatte ihn zu einem vorher festgelegten Lande-und Abflugplatz gebracht, er lag auf einer Trage in einer hinteren Ecke der Ladefläche. Andere Verletzte wurden dann in den Hubschrauber verfrachtet, aber Buffalo wurde irgendwie übersehen, und er konnte keinen Alarm schlagen, weil er wegen seiner Kehlverletzung noch zu heiser war, um in all dem Hubschrauberlärm gehört zu werden. In letzter Minute rief jemand: „Ihr habt den Soldaten auf dem Laster vergessen!“An Bord nahm ein Crewmitglied seine Hand, sagte ihm, er solle sich nicht sorgen, sie würden es nach Hause schaffen.
Derweil zählte Olexander im Cockpit die Minuten bis zum Abflug, jede schien sich dahinzuziehen. Es
sei „sehr furchterregend“gewesen, schildert er: „Du siehst die Explosionen um dich herum, und das nächste Geschoss könnte dich erreichen.“Angesichts der Kriegswirren und der noch bruchstückhaften Berichte von den geheimen Missionen lässt sich nicht mit absoluter Sicherheit sagen, dass Buffalo und Olexander, der sich in einem vom Militär aufgezeichneten Videointerview äußerte, auf demselben Flug waren. Aber die Details ihrer Schilderungen stimmen überein, etwa das Datum, das sie nannten, die Nacht vom 4. auf den 5. April, und ihre Angaben über den Beschuss mit einer russischen Rakete, der den Hubschrauber – so Olexander – „wie ein Spielzeug“hin und her warf.
Der Pilot erhöhte das Tempo auf 220 Stundenkilometer und flog äußerst tief, bis zu drei Meter über dem Boden, stieg nur in die Luft, wenn Stromleitungen zu überwinden waren. Ein zweiter Helikopter bei dieser Mission schaffte den Rückflug nicht. Sein Pilot teilte Olexander auf dem Weg per Radio mit, dass sein Treibstoff nicht ausreiche. Es war ihre letzte Kommunikation.
Ein Mitarbeiter des Militärgeheimdienstes bestätigt, dass ein Hubschrauber abgeschossen worden sei und zwei weitere nie zurückgekehrt seien. „Wir waren uns darüber im Klaren, dass es ein Ticket für eine einfache Fahrt werden könnte“, beschreibt er die Risiken der Missionen.
Aber Olexander und dessen Copilot schafften es nach Dnipro, landeten sicher. „Jeder klatschte Beifall“, schildert Buffalo: „Wir sagten den Piloten, dass sie das Unmögliche geschafft haben.“