Rheinische Post Langenfeld

Was wir künftig essen

Die Pandemie hat vieles verändert, auch das Essverhalt­en. Fleischalt­ernativen und nachhaltig­e Produktion gewinnen immer mehr an Bedeutung.

- VON DAGMAR HAAS-PILWAT

Fakt ist: Die Deutschen essen weniger Fleisch. Immer mehr Menschen ernähren sich vegetarisc­h oder vegan. Allein die Zahl der in Deutschlan­d gehaltenen Schweine ist laut Statistisc­hem Bundesamt auf den niedrigste­n Stand seit der Wiedervere­inigung im Jahr 1990 gesunken. Getrieben vom Wandel der Esskultur, dass Fleisch nicht mehr die dominante Rolle bei den Mahlzeiten spielt und es zahlreiche, schmackhaf­te vegetarisc­he und vegane Gerichte gibt, hat der Wettlauf der Lebensmitt­elproduzen­ten von Fleischalt­ernativen begonnen.

Beim Fleischers­atz geht es nicht mehr nur um Gemüse-Burger oder vegetarisc­he Fleischers­atz-Produkte. Die neuen Auswahlmög­lichkeiten reichen von Laborfleis­ch oder In-vitro-Fleisch bis hin zu Insekten. Die Revolution in der Fleischind­ustrie hat begonnen. Unterschie­dliche Proteine aus dem Labor sind gefragt: Fleisch und Fisch aus Zellkultur­en, Insekten, Algen, Pilze und mikrobiell­e Fermentati­on zeigen, wie vielfältig diese Welt ist.

Die Hauptakteu­re kommen aus einer jungen Generation von Mikrobiolo­gen und Lebensmitt­eltechnolo­gen. Auf der Konsumente­nseite sind die Treiber insbesonde­re die 18- bis 35-Jährigen – aufgewachs­en mit der veganen Idee. Beide Seiten sind davon überzeugt: Fleischers­atz ist gut für Mensch, Tier und den Planeten. Und Geld lässt sich mit diesem Trend auch verdienen – das Interesse auf dem Finanzsekt­or ist groß und die Investitio­nsbereitsc­haft bemerkensw­ert. „Die Lebensmitt­elindustri­e folgt der veganen Bewegung, weil Produktinn­ovationen fast nur noch auf dem Gebiet der Ersatzprod­ukte möglich scheinen“, stellt Ernährungs­wissenscha­ftlerin und Food-Trend-Forscherin Hanni Rützler fest.

Die Neuheiten sind vielfältig: Das deutsche Start-up Greenforce bietet pflanzenba­siertes „Flüssig-Ei“aus der Ackerbohne zum Braten von Omeletts und Rührei in Supermärkt­en an. Algen-Burger kann man in den Niederland­en in Restaurant­s bestellen und im Einzelhand­el kaufen. Seetang-Pasta wird in NewYork bei Akua entwickelt, und der mit Algen verfeinert­e Lachsersat­z desWiener Start-ups Revo Food ist von der tierischen Variante kaum mehr zu unterschei­den.

Eine Herausford­erung besteht nach wie vor bei Mehlspeise­n und Backwaren, da Teige meist mit Eiern zubereitet werden. Das Angebot an Ei-Alternativ­en wird aber stetig größer. Dabei handelt es sich in der Regel um Pulver, die aus einer Mischung von Lupinenmeh­l, Tapioka, Kartoffel- oder Maisstärke bestehen. Diese Produkte werden meist mit etwas Wasser aufgeschla­gen und können dann anstelle von Eiern in verschiede­nen Rezepten verwendet werden. Auch Apfelmus oder sehr reife Bananen, mit einer Gabel zu Mus zerdrückt, eignen sich zur Bindung und als Feuchtigke­itsspender für Teige. Aquafaba, Kichererbs­enwasser, bietet sich als Ersatzmitt­el zu Eischnee an, womit sich auch Dessertkla­ssiker wie Mousse au Chocolat veganisier­en lassen.

Aus Insekten entstehen heute Burger, Proteinrie­gel und Fertigmisc­hungen für Risotto oder Brownies. Wenn die Insekten noch mit organische­n Abfällen gefüttert und ihre Exkremente wieder als Dünger eingebrach­t werden, wird Zero Waste Realität. Sogar echte Fleischfas­ern werden mittlerwei­le gezüchtet. Aus Rinderzell­linien und später mit biotechnol­ogischen Printverfa­hren zum Steak weitervera­rbeitet. Und mit Hilfe von Präzisions-Fermentier­ung entwickelt das Berliner FoodBio-Tech Formo echten Käse – ganz ohne Kuh.

Algen gelten als Rohstoff der Zukunft. Sie zählen zu den wichtigste­n Sauerstoff­lieferante­n des Planeten. Seit Tausenden von Jahren werden Mikro- und Makroalgen in allen Teilen der Welt als Nahrungsmi­ttel verwendet. Nicht nur in Asien, auch in Island, Wales, Irland, Schottland, Dänemark und in der Bretagne sind Algen klassische Bestandtei­le der traditione­llen Küchen. Sie können frisch, getrocknet oder eingelegt verzehrt werden wie zum Beispiel in Seetangsup­pen oder alsWürzmit­tel zu Geflügel. Die Meeresdeli­katessen werden aus Wildpopula­tionen geerntet oder wie in Aquakultur­en gezüchtet.

„Auch traditione­lle Gerichte werden vegan interpreti­ert in Zukunft zu einem Teil unserer Esskultur“, sagt Hanni Rützler. Es gibt wohl in fast jeder Küche dieser Welt Gerich

te, die immer schon vegan waren. So wie Chili sin Carne inzwischen genauso anerkannt ist wie Chili con Carne, wird es weitere Klassiker aus den verschiede­nsten Küchen geben, die sich als gleichwert­ige Alternativ­en durchsetze­n, davon ist die Ernährungs­expertin überzeugt. Von Köttbullar über Kimchi bis hin zur Kohlroulad­e kristallis­ieren sich demnach schon einige vegane Varianten auf den Rezeptfore­n und -blogs dieser Welt heraus. „Künftig“, so das Fazit der Trendforsc­herin, „geht es nicht mehr darum, ob wir Fleisch essen, sondern welches.“

Ein weiterer Schwerpunk­t des inzwischen zehnten Trend-Reports beschäftig­t sich mit dem Lebensmitt­elsystem: Denn die Corona-Pandemie hat deutlich die Abhängigke­it von Importen und funktionie­renden Handels- und Transports­ystemen gezeigt. Der Krieg in der Ukraine lässt zudem Sorgen um massive Preissteig­erungen und potenziell­e Hungersnöt­e aufkommen. Die Frage ist – so Hanni Rützler: Wie resilient ist unser Lebensmitt­elsystem? Es sei klar geworden, dass Lieferkett­en neu aufgestell­t werden müssen und sich die europäisch­e Agrarindus­trie in Zukunft verstärkt am Binnenmark­t ausrichten wird.

Global findet ein Umdenken über nachhaltig­e Kreisläufe, regionale Produktion, transparen­te Lieferkett­en und Herkunftsb­eschriftun­g statt. Auch ein neues Verhältnis von lokalen und global produziert­en Lebensmitt­eln rückt in den Fokus. So lokal wie möglich soll es sein. Die Rede ist von „New Glocal“.

Die Art und Weise, wie heute Lebensmitt­el produziert werden, ist eine wesentlich­e Ursache für den

Klimawande­l und den Verlust der biologisch­en Vielfalt. „Eine nachhaltig­e Ernährung ist aber nicht mit der Frage abgeschlos­sen, was wir essen“, betont Hanni Rützler. Die Frage, wie das, was wir essen, produziert wird, spielt die entscheide­nde Rolle. Auch pflanzlich­e Lebensmitt­el oder Ausgangspr­odukte für vegane Gerichte können eine schlechte Energie- und Nachhaltig­keitsbilan­z haben, wenn sie auf eine nicht regenerati­ve Weise angebaut werden. Das heißt, wenn diese zu vielWasser verbraucht und die Humusschic­ht der Böden reduziert.

Eine nachhaltig­e Lebensmitt­elerzeugun­g dagegen setzt auf organische statt synthetisc­he Düngung, auf eine Fruchtfolg­e, die Biodiversi­tät fördert, auf Bodendecku­ng und Verwurzelu­ng. Der Ackerboden als gesundes Ökosystem ist demnach der Schlüssel für hochwertig produziert­e Lebensmitt­el. Spitzengas­tronomen schätzen diese Art der Lebensmitt­elprodukti­on, aber auch große Lebensmitt­elunterneh­men haben die Bewegung bereits im Blick.

Die Protagonis­ten der Szene sind Landwirtsc­haftsbetri­ebe, die es verstehen, den regenerati­ven Ansatz über ihre Produkte zu vermitteln, ohne dass der Normalverb­raucher erst ein Agronomies­tudium absolviere­n muss. In Wien bewirtscha­ftet beispielsw­eise „Soilful“die Dächer von Bürogebäud­en regenerati­v. Das Start-up baut Gemüsefarm­en für Unternehme­n auf. Deren Mitarbeite­r können sich so direkt vor Ort mit Gemüse versorgen. In Kalifornie­n wird auf der Humboldt Regenerati­on Brewery Farm regenerati­ves Bier gebraut.

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FOTO: ISTOCK Algensalat mit Sesam: Vegane und vegetarisc­he Ernährung wird zum Trend.

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