Rheinische Post Langenfeld

Der Markt ist nicht die Realität

Warum die Mehrheit der privaten Anleger bei der Börse meist daneben liegt.

- Unser Autor leitet die Vermögensa­bteilung von HSBC Deutschlan­d in Düsseldorf. Er wechselt sich hier mit den beiden Wirtschaft­sprofessor­en Ulrike Neyer und Justus Haucap ab.

Kürzlich erntete ich bei einer Vortragsve­ranstaltun­g einige herzhafte Lacher, als ich feststellt­e: „Wenn es nicht mehr runtergeht, geht es eben rauf.“Es war meine Antwort auf die Frage, warum trotz schlechter Nachrichte­n und unsicherem Ausblick die Kurse steigen. Nun war meine Aussage zwar flapsig formuliert, aber im Kern gar nicht witzig gemeint. Zunächst war es nur die simple Feststellu­ng, dass in Krisenzeit­en die Kurse so gut wie nie auf der Stelle treten – dazu ist die Nervosität von Anlegern und Händlern viel zu groß. Doch ist auch das nur eine Beobachtun­g und keine Erklärung. Den tieferen Grund fasst eine alte Weisheit so zusammen: „Die Börse ist eine Einrichtun­g, um der größtmögli­chen Zahl von Menschen die schlimmstm­öglichen Schmerzen zuzufügen.“Anders gesagt: In Anlagefrag­en liegt die Mehrheit fast immer falsch und erleidet deshalb Kursverlus­te. Ihr Kardinalfe­hler liegt darin, die Marktentwi­cklung mit der Realität zu vergleiche­n. Dieser Zusammenha­ng ist aber sowohl inhaltlich als auch auf der Zeitachse derart wacklig, dass sich höchstens sehr langfristi­g orientiert­e Anleger danach richten können. Alle anderen müssen genauer hinschauen. Sie müssen die Kurse mit den Erwartunge­n an die Realität vergleiche­n. Wird, wie vor einiger Zeit, der Zusammenbr­uch des deutschen Energiesys­tems befürchtet, doch es kommt nur eine Gasumlage von 2,4 Cent pro Kilowattst­unde, ist eben Entwarnung angesagt. Und das, obwohl ein tiefer Griff in die Taschen der Haushalte dem Wirtschaft­sklima nicht helfen wird. Doch wenn alle Ängstliche­n ihre Aktien bereits verkauft haben, gibt es bei Verkündung der Gasumlage kein weiteres Angebot mehr. Konsequenz: Käufer sind in der Überzahl und die Kurse steigen.

Prüfen wir also gemeinsam die Problemlag­e: Krieg in der Ukraine, Lieferengp­ässe, hohe Inflation, steigende Zinsen, drohende Rezession, anhaltende Pandemie, Gewinneinb­ußen. Für Sie etwas Neues dabei? Eben. Wer nur deshalb glaubt, die Kurse müssten fallen, kommt viel zu spät.

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KARSTEN TRIPP

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