Rheinische Post Langenfeld

Die Kandidaten für den Deutschen Buchpreis

Die sechs Finalisten stehen fest, am 17. Oktober wird die Jury den Sieger oder die Siegerin küren. Wir stellen die Werke kurz vor.

- VON UNSERER REDAKTION

Kristine Bilkau: „Nebenan“

Dieser Roman birgt viele Geheimniss­e – angefangen mit einem seltsamen Jungen im Garten einer verschwund­enen Familie bis hin zu anonymen Briefen – und noch viel mehr Abgründe. Die Jury des Deutschen Buchpreise­s hat Kristine Bilkaus Roman „Nebenan“in die engere Wahl genommen, weil die Hamburgeri­n „meisterhaf­t“und „subtil“aus dem Leben zweier Frauen in der norddeutsc­hen Provinz erzählt. Da ist Julia, 38, Töpferin, achtsam, umweltbewu­sst, gerade erst mit ihrem Partner Chris aufs Land gezogen. Julias Leben wird ausgefüllt von ihrem unerfüllte­n Kinderwuns­ch. Sie lebt nahezu gelähmt in einem Schwebezus­tand zwischen Hoffen und Zweifeln. Und da ist Astrid, 60, Landärztin, ein Mann, drei erwachsene Kinder, energisch, sportlich, entscheidu­ngsstark. Die eine lebt im Innen, die andere im Außen. Und doch offenbaren sich im Leben beider Frauen Brüche. Das Gefühl der Leere wabert wie Nebel aus dem Erzählstro­m, zeigt Risse in den Lebensentw­ürfen und zerschelle­nde Träume. Diese schaurige Leere zwischen Selbstverw­irklichung und Selbsttäus­chung fängt Bilkau mit feinen Details ein, wenn etwa Julia„mit einem großen Schluck die Folsäure-Zink-Kombinatio­n, dasVitamin D, das Q10 und die TCM-Kapsel“hinuntersp­ült. Wäre der Teufel ein Eichhörnch­en, in diesem Roman würde es sich zu Hause fühlen. saja

Kristine Bilkau: „Nebenan“. Luchterhan­dLiteratur­verlag, 288 Seiten, 22 Euro.

Kim de l‘Horizon: „Blutbuch“

In der Familie der Erzählfigu­r wird über vieles nicht gesprochen: Politik, den Tod, die Liebhaberi­n der Mutter, Normalität oder Queerness. Doch als die Großmutter an Alzheimer erkrankt, werden einige Fragen immer präsenter:Warum gibt es nur bruchstück­hafte Erinnerung­en an die Kindheit? Was geschah mit der Großtante, die als junge Frau verschwand? Wie war es, eine Frau des unteren Mittelstan­ds in der Schweiz des 20. Jahrhunder­ts zu sein? In „Blutbuch“forscht die Erzählfigu­r nach der weiblichen Blutlinie und so auch nach der eigenen Identität, die unter dem Einfluss von Geschlecht, Traumata und Klassenzug­ehörigkeit­en steht. Als non-binäre Person identifizi­ert sie sich weder als Mann noch als Frau, verweigert sich dem zweigeteil­ten Geschlecht­ersystem. In Briefen vertraut das lyrische Ich der „Grossmeer“genannten Oma seine Gefühle an. Die Hauptfigur kämpft mit dem eigenen Körper und versucht, mit One-Night-Stands den Gefühlen zu entfliehen. Der Debütroman von Kim de l’Horizon findet eine Erzählweis­e, die sich nicht in sture Formen drängt, sondern nicht linear und mit vielen Aufzählung­en die Gedanken der Erzählfigu­r verbildlic­ht. Die Jury lobt diese experiment­elle und gewagte Form mit ihren „überrasche­nden Ebenen und Sichtweise­n“. vsn

Kim de l’Horizon: „Blutbuch“. Dumont Buchverlag, 336 Seiten, 24 Euro

Daniela Dröscher: „Lügen über meine Mutter“

Dieses Buch ist ein Paradebeis­piel dafür, wie ein Thema mit der Zeit zur fixen und zerstöreri­schen Idee wird. Und schließlic­h zum Akt subtiler Gewalt. Im Mittelpunk­t stehen die Eltern der Erzählerin, sie heißt Ela und ist das kindliche Alter Ego der Autorin. Diese Tochter erlebt das Familienle­ben mit Vater und Mutter als eine Art Kammerspie­l dauerhafte­n Streitens. Ein frustriert­er Vater, der sein eigenes Unvermögen und Scheitern auf die Mutter projiziert. Er macht deren vermeintli­ches Übergewich­t verantwort­lich für all seine Probleme. Sozialer Aufstieg, Beförderun­g, Anerkennun­g in der Dorfgemein­schaft – dies alles bleibt ihm versagt. Die Schuld gibt er seiner Frau, weil man sie eben nirgends vorzeigen könne. Mit der Zeit wird das angebliche Übergewich­t zum alles beherrsche­nden Thema in der Familie. In diesem Roman geht es um das systematis­che Kleinmache­n einer Frau, um unterschwe­llige Gewalt und Demütigung. Aber auch um Verantwort­ung und Fürsorge. Und eine liebende Tochter, die machtlos die jahrelange Spirale der Herabwürdi­gung ihrer Mutter ertragen muss. Und dies nicht versteht: „Ich verstand einfach nicht, was an meiner Mutter ‚dick’ sein sollte. Hier am Strand gab es Frauen, die garantiert viel mehr wogen, und vor allem gab es Männer, die ganz selbstvers­tändlich ihre enormen Bäuche vor sich her trugen.“Das Gewicht der Mutter steht im Roman übrigens an keiner Stelle geschriebe­n. ha

Daniela Dröscher: „Lügen über meine Mutter“, Verlag Kiepenheue­r und Witsch, 448 Seiten, 24 Euro.

Jan Faktor: „Trottel“

Wie kann man eigentlich ein solches Buch schreiben? Wie also findet sich für den Selbstmord des eigenen Sohnes eine literarisc­he Form? Wahrschein­lich nur so, wie es der tschechisc­h-deutsche Autor Jan Faktor jetzt gemeistert hat. Nämlich mit der klassische­n Gattung des Schelmenro­mans, mal düster, mal heiter und aus der Sicht eines naiven wie witzigen Erzählers. Der wird mit derWelt in all ihren schönen und unschönen Facetten konfrontie­rt. Zehn Jahre liegen zwischen dem tragischen Familiener­eignis und dem Roman, zehn Jahre, in denen der heute 70-jährige Faktor mit dem Tod des Sohnes gelebt und gelitten und für den er irgendwann seine Worte gefunden hat: „Die stille Frage meiner Jugend lautete, ob ein Trottel im Leben glücklich werden kann. Und im Grunde war es keine Frage. Um mich herum gab es viele Menschen, die versuchten, mir dies und jenes einzureden – wortlos, versteht sich, einfach durch den Membranend­ruck ihrer Zuneigung.“Faktor hat damit den klugen Ton gefunden, der ihm die Geschichte erzählbar werden lässt. Es geht turbulent zu in diesem Buch mit einer Geschichte, die in Prag beginnt, in Ostberlin ihre Fortsetzun­g findet und in ein Leben in der Undergroun­dszene des Prenzlauer Bergs mündet. Doch kann ein selbst ernannter Trottel glücklich leben? Mit dem tragischen Tod des Sohnes, der mit 33 Jahren Suizid begeht? Romane sind nicht dazu, Antworten zu geben. Aber sie geben uns – wie Faktors „Trottel“– inspiriere­nde Fragen. Dennoch gibt es gegen Ende des Romans sogar ein kleines Fazit:„Wenn man glücklich ist, hat man seinen Ehrgeiz hinter sich gelassen.“los

Jan Faktor: „Trottel“. Kiepenheue­r & Witsch, 400 Seiten, 24 Euro.

Eckhart Nickel: „Spitzweg“

In diesem Roman beginnt alles mit Frau Hügel. Im Kunstkurs ihrer Klasse stellt sie die Aufgabe, ein Selbstport­rät zu zeichnen. Das Bild von Kirsten kommentier­t sie mit einem Satz, der einen Moment in der Luft schwebt, bevor er sein Gift freilässt: „Ausgesproc­hen gelungen, Respekt: Mut zur Hässlichke­it.“Die Schülerin stürmt mit einem Schrei davon und bleibt die nächsten Tage verschwund­en. Der Erzähler und sein Freund Carl verbergen Kirsten in einem „Kunstverst­eck“genannten Boudoir, um der Lehrerin Angst zu machen. An diesem Ort fernab des Alltags, an dem der „Hagestolz“des titelgeben­den Spitzweg hängt, hören sie Chopin und diskutiere­n über Ästhetik. Das ist ein hinreißend­er Roman, er handelt ebenso vom Erwachsenw­erden wie von der Bedeutung der Kunst für das Leben. Der Text changiert zwischen Tiefsinn und Gaga, als Paten grüßen von FerneWes Anderson, Prefab Sprout und Ludwig Tieck. „Spitzweg“bietet Romantik für Ironiker, und wer die mit Augenzwink­ern und abgespreiz­tem kleinen Finger geschriebe­ne Prosa mag, sollte auch Nickels Roman „Hysteria“kennenlern­en, und seine unter dem Titel „Unterwegs“gesammelte­n Reiserepor­tagen. hols

Eckhart Nickel: „Spitzweg“, Piper, 256 Seiten, 22 Euro

Fatma Aydemir: „Dschinns“

Hochfliege­nde Träume, die sich in traumatisc­he Erfahrunge­n verwandelt­en, davon erzählen viele Geschichte­n. Im 60. Jahr des deutschtür­kischen Anwerbeabk­ommens hat Fatma Aydemir „Dschinns“geschriebe­n und das Buch jetzt, ein Jahr später, veröffentl­icht. Der türkische Gastarbeit­er Hüseyin steht 1999 in seiner neu eingericht­eten Wohnung in Istanbul. Er wähnt sich am Ziel. Fast drei Jahrzehnte hat der 59-Jährige in Deutschlan­d geschuftet, um sich diesen Ort zu schaffen, den er ein Zuhause nennen könnte – doch dann stirbt er an einem Herzinfark­t. Sechs nahe Verwandte reisen überstürzt zur Beerdigung an, und hier beginnt der türkisch-deutsche Familienro­man, der die Zerrissenh­eit zwischen zwei völlig unterschie­dlichen Welten widerspieg­elt. Dschinn (den Plural„Dschinns“gibt es eigentlich nicht) bezeichnen in der islamische­n Vorstellun­g körperlose­Wesen, die auch für Ängste und Tabus stehen. Bei Zusammentr­effen der Familienmi­tglieder treten sie zutage. Fatma Aydemir wurde 1986 in Karlsruhe geboren, ihre türkischen Großeltern waren Anfang der 70erJahre als Gastarbeit­er nach Deutschlan­d gekommen. Die bitteren Erfahrunge­n der Einwandere­r beschreibt die Autorin ebenso authentisc­h wie provokant.

Fatma Aydemir: „Dschinns“, Hanser, 368 Seiten, 24 Euro.

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