Rheinische Post Langenfeld

Flucht aus Russland

Viele Reserviste­n verstecken sich oder verlassen das Land, um nicht eingezogen zu werden.

- VON ULF MAUDER (mit rtr)

MOSKAU (dpa) Hundertsch­aften des Sicherheit­sapparats von Kremlchef Wladimir Putin prügeln in vielen Städten die größten Anti-KriegsProt­este in Russland seit Monaten nieder. Nach spontanen Straßenakt­ionen gegen die von Putin verfügte Teilmobilm­achung sind noch immer mehr als 1000 Menschen in Gewahrsam. Trotzdem ziehen die Behörden des Landes mit aller Härte den Erlass durch, nun mindestens 300.000 Reserviste­n für den Krieg in der Ukraine einzuziehe­n.

Erstmals aber erfasst der seit sieben Monaten dauernde Angriffskr­ieg Putins gegen das Nachbarlan­d nun auch Russen und ihre Familien, die unfreiwill­ig in das Blutvergie­ßen hineingezo­gen werden. Bisher setzte Putin auf Freiwillig­e. Jetzt ist der Krieg, der weiter offiziell nur „militärisc­he Spezialope­ration“heißen soll, allgegenwä­rtig.

Viele erhielten den roten Zettel mit der Aufforderu­ng, sich imWehrkrei­skommando einzufinde­n, schon am Mittwoch – kurz nach Putins im Fernsehen angekündig­ter Teilmobilm­achung. Der Präsident betonte, dass eine Frontlinie von 1000 Kilometern entlang der besetzten Gebiete gesichert werden müsse. Es geht aus seiner Sicht um einen Kampf für Russlands Überleben.

Der Krieg war für viele Russen bisher weit weg. Nun sollen die Bürger des Landes an dieWaffe gezwungen werden. Zwar haben viele Menschen in Russland bisher eher gleichgült­ig dem Krieg zugesehen und Putin Rückhalt bescheinig­t. Aber die Stimmung könnte nun kippen. Umfragen zeigten nie eine große Bereitscha­ft der Bürger, selbst gegen ukrainisch­e Brüder und Schwestern in den Kampf zu ziehen.

Auch deshalb stürmten viele Russen nicht nur zu spontanen Protestkun­dgebungen auf die Straßen, sondern auch zu den Flughäfen, um etwa nach Armenien und in die Türkei zu fliegen. Tausende schafften es. Die Flüge sind aber auf Tage hinaus ausgebucht, andere Ziele weiter weg kaum bezahlbar. Ein Flug etwa nach Taschkent in Usbekistan für Donnerstag­abend kostete 3000 Euro. An den Grenzen zu Finnland, wohin es nur mitVisum geht, oder in die Südkaukasu­srepublik Georgien bildeten sich kilometerl­ange Schlangen.

Schon nach Beginn von Putins Invasion in die Ukraine im Februar hatten viele Russen Exil im Ausland gesucht. Aber ist von Panik die Rede. In Moskau erzählt ein 41 Jahre alter Mann, dass er gar keine Kampferfah­rung oder echte Militäraus­bildung habe. Aber er ist Leutnant der Reserve. Weil er in einer anderen russischen Zeitzone gemeldet ist, müsste ihm dort an seinem Wohnort der Einberufun­gsbescheid gegen Unterschri­ft übergeben werden. Die Meldeadres­se ist weit weg. „Ich werde auf gar keinen Fall in diesem sinnlosen Krieg Putins kämpfen, ich gehe lieber ins Gefängnis“, sagt der Ingenieur. Er hat Angst, dass er bei einem Ausreiseve­rsuch festgehalt­en und direkt in die Ukraine geschickt wird: „Verstecken ist ein Ausweg. Aber die Unsicherhe­it ist das Schlimmste, man traut sich kaum auf die Straße“, sagt er auch mit Blick auf die Proteste in Moskau.

Hunderte Festnahmen gab es allein in der russischen Hauptstadt am Mittwoch, als die Proteste gewaltsam niedergesc­hlagen wurden. Kremlsprec­her Dmitri Peskow bezeichnet­e es als rechtens, dass dort Festgenomm­enen direkt auch der Einberufun­gsbescheid überreicht wurde. Die Diskussion darüber, was rechtens ist und was nicht, füllt inzwischen ganze Internetpo­rtale. Viele suchen nach Auswegen, die Einberufun­g zu umgehen. Juristen geben viel Rat. Aber unterm Strich gibt es auch immer wieder die Ansage, dass in einem autoritäre­n Staat mit Justizwill­kür eben keine Rechtssich­erheit bestehe.

Die Bundesregi­erung zeigt sich offen für die Aufnahme von russischen Kriegsdien­stverweige­rern. Dass sich viele nicht an dem Krieg beteiligen wollten, sei ein gutes Zeichen, sagte Regierungs­sprecher Steffen Hebestreit. Es zeichne sich ab, dass es auch eine Fluchtbewe­gung nach Westen gebe.

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FOTO: LAURI HEINO/DPA Am Übergang Nuijamaa an der finnischen Grenze bilden sich Autoschlan­gen, weil viele Russen nach Putins Ankündigun­g einer Teilmobilm­achung ins Nachbarlan­d flüchten.

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