Barfuß über die Alpen
Viele Wege führen über das Gebirge. Die Familie unserer Autorin lief nicht nur zu Fuß, sondern – vom Wanderführer angespornt – zu ihrer eigenen Überraschung streckenweise auch ohne Schuhe und Strümpfe. Ein Erlebnisbericht.
Hätte man uns dies vor wenigen Wochen erzählt, jeder von uns hätte wohl dem anderen einen Vogel gezeigt: Ihr werdet barfuß im Gebirge unterwegs sein? Abseits befestigter Wege gehen und über grüne Steilhänge Gipfel erklimmen? Völlig abwegig. Unmöglich. Wir sind neun Erwachsene und acht Kinder, und wir wollen gemeinsam auf dem Europäischen Fernwanderweg E 5 über die Alpen wandern: Von Oberstdorf nach Meran wird uns unser Weg führen. Über die Allgäuer Alpen hinab ins Lechtal, weiter in die Pitztaler und Ötztaler Gletscherwelt und schließlich über das Timmelsjoch nach Südtirol. Natürlich weiß jeder von uns: Ohne einen anständigen Schuh geht es sich nicht gut und sicher im Gelände. Im Hochgebirge darf es auch ein bisschen mehr sein. Der höchste Punkt unserer Tour liegt immerhin auf knapp 3000 Metern Höhe. Dafür muss ein Bergschuh ins Gepäck, knöchelhoch und mit anständiger Sohle und Profil. In unserer Wandergruppe sind darauf alle bestens vorbereitet – denken wir.
Schon am ersten Tag auf dem Weg hinauf in die Allgäuer Alpenwelt sorgt Bergführer Günther Wölfle allerdings für eine erste Überraschung:Während die Eltern und ihre Kinder sich die schweren Stiefel schnüren, startet der 65-Jährige barfuß in Richtung Kemptner Hütte. Den kompletten Tagesmarsch, immerhin rund 900 Höhenmeter hinauf, trägt er seine Schuhe am Rucksack spazieren. Dabei führt der Weg keineswegs nur über ebenen Asphalt oder angenehm weiche Böden, sondern mit zunehmender Höhe auch auf steinigen Pfaden. Für jemanden, der zu Hause bestenfalls auf der heimischen Terrasse barfuß läuft, ist das unvorstellbar.
Für Günther ist es offenbar die selbstverständlichste Sache der Welt. Ihm macht der Untergrund rein gar nichts aus. Wir folgen ihm still staunend – und mit vielen Fragen im Kopf. Bevor wir die allerdings stellen können, müssen wir uns anhören: „Die Mehrheit von euch hat komplett falsche Schuhe an. Damit spürt man absolut nichts“, sagt er und zeigt auf so manche dicke Gummisohle. Unser Führer nimmt kein Blatt vor den Mund:„Hiermit verliert ihr jedes Gefühl für den Untergrund.“Das ist erst mal ein Dämpfer. Alle wollten doch in Sachen Ausrüstung alles richtig machen. Zwar klingen seine Worte schon irgendwie logisch. Dennoch hat der eine oder andere von uns in diesem Moment sicher so etwas gedacht wie: „Unsinn. Ohne Schuhe, das funktioniert bei mir niemals. Ich fühl mich gut damit.“Die Treter bleiben also an. Wir brauchen sie schon als mentale Stütze.
Barfuß in den Alpen – das übersteigt einfach unsere Vorstellungskraft. Insgeheim aber schielen wir schon fasziniert auf Günthers nackte Füße und fragen uns: Wie macht der das? Und vor allem: Wie sehen seine Füße aus?
Die Antwort auf beide Fragen ist einfach und kurz: mühelos und makellos! Schrammen, Hornhaut, Abnutzungsspuren,Verletzungen gar? Fehlanzeige. Stattdessen präsentiert unser Wanderführer weiche und völlig unversehrte Fußsohlen. Mit der Zeit hat sich dort in der Unterhaut der Fußsohle eine Schicht aus Fettzellen gebildet, die das Gehen auf nahezu jedem Untergrund problemlos möglich macht. Überhaupt macht unser Führer aus dem Barfußgehen keine große Sache. Er tut es einfach und erklärt eher nebenbei: „Beim Barfußlaufen spüren die Rezeptoren den Untergrund und geben permanent Rückmeldungen ans Gehirn. Sehnen, Bänder, Muskeln funktionieren dann so, wie die Natur es eigentlich vorgesehen hat. Steckst du die Füße in Schuhe, kannst du nicht mehr richtig spüren, was unter dir passiert.“
Das klingt einleuchtend. Und spannend. Noch am selben Tag wollen wir es selbst ausprobieren. In der Abenddämmerung, auf 1800 Metern Höhe, inmitten von blühenden Almwiesen und umgeben von der Allgäuer Bergwelt, lassen wir die Wanderschuhe erstmals stehen (die meisten von uns nehmen vorsichtshalber ihre Schlappen mit)….
Dann die ersten Schritte im feuchten Grund. Zaghaft, zögerlich, skeptisch. Der Blick bleibt vorerst kritisch auf den Boden gerichtet: Dort sind Moose, Flechten, Blumen, Gras. Wo den Fuß am besten aufsetzen? Als Erstes fällt die angenehme Kühle auf, die sofort durch die Fußsohlen strömt. Ich warte auf das erste Piksen, Kratzen, Stechen – es kommt nicht. Stattdessen fühlt es sich an wie auf einem Velours-Teppich, in den ich mal tief und mal weniger tief einsinke. Das Gras unter meinen Füßen bleibt unversehrt, keine Halme knicken, keine Blüten werden zertrampelt. „Mit Schuhen macht man hier alles kaputt“, sagt Günther, „da muss man auf den Wegen bleiben“. Es klingt wie eine Strafe.
Das Anfängererlebnis beeindruckt und macht Lust auf mehr. „Wer will, kann hier jetzt seine Schuhe ausziehen.“Diesen Hinweis hören wir ab jetzt täglich. Etwa in den Lechtaler Alpen beim Aufstieg zur Anhalter Hütte oder auf dem Weg hinauf zum Grat des Venet in den Ötztaler Alpen. Wir lernen immer Neues dazu. Zum Beispiel, dass auch bergab das Barfußlaufen seine Vorteile hat: „Mit nackten Füßen knickt man nicht um“, erklärt Günther: „Die Rezeptoren melden, wenn du schief auftrittst, die Muskeln, Bänder und Sehnen reagieren entsprechend und gleichen das aus.“Tatsächlich fehlt, wenn die Schuhe mit dicker Sohle ausgezogen sind, offenbar der Knick-Hebel. Wir kommen recht schnell auch bergab in sicheren Tritt und lernen, jeden Schritt gut abzufedern.
Die Kinder denken über all diese Theorien übrigens keine Sekunde lang nach. Bei ihnen gilt seit dem ersten Ausprobieren das Motto: Schuhe aus und los, wann immer es möglich ist. Wer keine Lust hat oder doch Tierchen, Kuhfladen oder Stachelpflanzen fürchtet, der lässt die Schuhe an. So einfach ist das. Denn natürlich kennt unser Bergführer jedes Zögern und Zaudern von sich selbst. Dass er heute auch über steinigen Untergrund so geht, als wäre es Wolle, war auch bei ihm nicht immer so. Früher war er Architekt. Mit den Berufsjahren kamen Rückenschmerzen, Knieprobleme, Stress. Ein Arzt riet ihm damals, das Barfußgehen auszuprobieren:„Schon nach kurzer Zeit waren meine Beschwerden viel besser, die Schmerzen schließlich weg.“Erst ging er nur auf einfachen und glatten Flächen wie Asphalt, dann wollte er immer mehr. Inzwischen ist er seit Jahren als Wanderführer für Hagen Alpintours mit Sitz in Oy-Mittelberg im Allgäu unterwegs. Die Bergschuhe zieht er nur im Geröll und bei steilem, steinigen Grund an. Für Günther Wölfle ist das Barfußgehen nicht einfach nur Laufen ohne Schuhe. „Es ist Teil meines Konzeptes geworden, alsWanderführer Spaß und Lebensfreude zu vermitteln“, sagt er. Eine Art Lebensphilosophie.„Du spürst den Untergrund intensiver, bist achtsamer, nimmst deine Umwelt einfach mehr war“– mittlerweile verstehen wir, was er meint. Ein Stück Erdung in einer digital dominierten Welt.
Vor allem spüren wir bei jedem Male ohne Schuhe immer wieder eines: ein völlig neues Gefühl der Leichtigkeit. „Ohne Schuhe hast du zehn Prozent mehr Power“, erklärt unser Wanderführer. Den grünen Steilhang nehmen wir nun direkt, während sich andere Wanderer in Serpentinen denWeg über steinige Stufen hinaufkämpfen. 40 Prozent Steigung – was die Kühe können, können wir jetzt auch. Weil die Wiederkäuer grundsätzlich waagerecht stehen müssen, um verdauen zu können, bilden sich auf den Hängen die sogenannten Kuhtreppen. Die hangeln wir uns jetzt zügig entlang, ohne Schuhe schafft man auch hohe Tritte mühelos.
Eigentlich war die Alpenüberquerung alleine schon Herausforderung genug.Wir haben sie geschafft. Und unendlich viele schöne Momente und Bilder in unseren Köpfen mit nach Hause getragen. Darauf hatten wir vorher natürlich alle gehofft. Mit dieser wunderbaren Zusatz-Erfahrung aber hatte niemand gerechnet. Und ja: Hätte uns das jemand vor ein paarWochen gesagt, wir hätten ihm ganz sicher einen Vogel gezeigt. Jetzt nicht mehr. Danke, Günther!