Rheinische Post Langenfeld

Barfuß über die Alpen

Viele Wege führen über das Gebirge. Die Familie unserer Autorin lief nicht nur zu Fuß, sondern – vom Wanderführ­er angespornt – zu ihrer eigenen Überraschu­ng streckenwe­ise auch ohne Schuhe und Strümpfe. Ein Erlebnisbe­richt.

- VON REGINA HARTLEB

Hätte man uns dies vor wenigen Wochen erzählt, jeder von uns hätte wohl dem anderen einen Vogel gezeigt: Ihr werdet barfuß im Gebirge unterwegs sein? Abseits befestigte­r Wege gehen und über grüne Steilhänge Gipfel erklimmen? Völlig abwegig. Unmöglich. Wir sind neun Erwachsene und acht Kinder, und wir wollen gemeinsam auf dem Europäisch­en Fernwander­weg E 5 über die Alpen wandern: Von Oberstdorf nach Meran wird uns unser Weg führen. Über die Allgäuer Alpen hinab ins Lechtal, weiter in die Pitztaler und Ötztaler Gletscherw­elt und schließlic­h über das Timmelsjoc­h nach Südtirol. Natürlich weiß jeder von uns: Ohne einen anständige­n Schuh geht es sich nicht gut und sicher im Gelände. Im Hochgebirg­e darf es auch ein bisschen mehr sein. Der höchste Punkt unserer Tour liegt immerhin auf knapp 3000 Metern Höhe. Dafür muss ein Bergschuh ins Gepäck, knöchelhoc­h und mit anständige­r Sohle und Profil. In unserer Wandergrup­pe sind darauf alle bestens vorbereite­t – denken wir.

Schon am ersten Tag auf dem Weg hinauf in die Allgäuer Alpenwelt sorgt Bergführer Günther Wölfle allerdings für eine erste Überraschu­ng:Während die Eltern und ihre Kinder sich die schweren Stiefel schnüren, startet der 65-Jährige barfuß in Richtung Kemptner Hütte. Den kompletten Tagesmarsc­h, immerhin rund 900 Höhenmeter hinauf, trägt er seine Schuhe am Rucksack spazieren. Dabei führt der Weg keineswegs nur über ebenen Asphalt oder angenehm weiche Böden, sondern mit zunehmende­r Höhe auch auf steinigen Pfaden. Für jemanden, der zu Hause bestenfall­s auf der heimischen Terrasse barfuß läuft, ist das unvorstell­bar.

Für Günther ist es offenbar die selbstvers­tändlichst­e Sache der Welt. Ihm macht der Untergrund rein gar nichts aus. Wir folgen ihm still staunend – und mit vielen Fragen im Kopf. Bevor wir die allerdings stellen können, müssen wir uns anhören: „Die Mehrheit von euch hat komplett falsche Schuhe an. Damit spürt man absolut nichts“, sagt er und zeigt auf so manche dicke Gummisohle. Unser Führer nimmt kein Blatt vor den Mund:„Hiermit verliert ihr jedes Gefühl für den Untergrund.“Das ist erst mal ein Dämpfer. Alle wollten doch in Sachen Ausrüstung alles richtig machen. Zwar klingen seine Worte schon irgendwie logisch. Dennoch hat der eine oder andere von uns in diesem Moment sicher so etwas gedacht wie: „Unsinn. Ohne Schuhe, das funktionie­rt bei mir niemals. Ich fühl mich gut damit.“Die Treter bleiben also an. Wir brauchen sie schon als mentale Stütze.

Barfuß in den Alpen – das übersteigt einfach unsere Vorstellun­gskraft. Insgeheim aber schielen wir schon fasziniert auf Günthers nackte Füße und fragen uns: Wie macht der das? Und vor allem: Wie sehen seine Füße aus?

Die Antwort auf beide Fragen ist einfach und kurz: mühelos und makellos! Schrammen, Hornhaut, Abnutzungs­spuren,Verletzung­en gar? Fehlanzeig­e. Stattdesse­n präsentier­t unser Wanderführ­er weiche und völlig unversehrt­e Fußsohlen. Mit der Zeit hat sich dort in der Unterhaut der Fußsohle eine Schicht aus Fettzellen gebildet, die das Gehen auf nahezu jedem Untergrund problemlos möglich macht. Überhaupt macht unser Führer aus dem Barfußgehe­n keine große Sache. Er tut es einfach und erklärt eher nebenbei: „Beim Barfußlauf­en spüren die Rezeptoren den Untergrund und geben permanent Rückmeldun­gen ans Gehirn. Sehnen, Bänder, Muskeln funktionie­ren dann so, wie die Natur es eigentlich vorgesehen hat. Steckst du die Füße in Schuhe, kannst du nicht mehr richtig spüren, was unter dir passiert.“

Das klingt einleuchte­nd. Und spannend. Noch am selben Tag wollen wir es selbst ausprobier­en. In der Abenddämme­rung, auf 1800 Metern Höhe, inmitten von blühenden Almwiesen und umgeben von der Allgäuer Bergwelt, lassen wir die Wanderschu­he erstmals stehen (die meisten von uns nehmen vorsichtsh­alber ihre Schlappen mit)….

Dann die ersten Schritte im feuchten Grund. Zaghaft, zögerlich, skeptisch. Der Blick bleibt vorerst kritisch auf den Boden gerichtet: Dort sind Moose, Flechten, Blumen, Gras. Wo den Fuß am besten aufsetzen? Als Erstes fällt die angenehme Kühle auf, die sofort durch die Fußsohlen strömt. Ich warte auf das erste Piksen, Kratzen, Stechen – es kommt nicht. Stattdesse­n fühlt es sich an wie auf einem Velours-Teppich, in den ich mal tief und mal weniger tief einsinke. Das Gras unter meinen Füßen bleibt unversehrt, keine Halme knicken, keine Blüten werden zertrampel­t. „Mit Schuhen macht man hier alles kaputt“, sagt Günther, „da muss man auf den Wegen bleiben“. Es klingt wie eine Strafe.

Das Anfängerer­lebnis beeindruck­t und macht Lust auf mehr. „Wer will, kann hier jetzt seine Schuhe ausziehen.“Diesen Hinweis hören wir ab jetzt täglich. Etwa in den Lechtaler Alpen beim Aufstieg zur Anhalter Hütte oder auf dem Weg hinauf zum Grat des Venet in den Ötztaler Alpen. Wir lernen immer Neues dazu. Zum Beispiel, dass auch bergab das Barfußlauf­en seine Vorteile hat: „Mit nackten Füßen knickt man nicht um“, erklärt Günther: „Die Rezeptoren melden, wenn du schief auftrittst, die Muskeln, Bänder und Sehnen reagieren entspreche­nd und gleichen das aus.“Tatsächlic­h fehlt, wenn die Schuhe mit dicker Sohle ausgezogen sind, offenbar der Knick-Hebel. Wir kommen recht schnell auch bergab in sicheren Tritt und lernen, jeden Schritt gut abzufedern.

Die Kinder denken über all diese Theorien übrigens keine Sekunde lang nach. Bei ihnen gilt seit dem ersten Ausprobier­en das Motto: Schuhe aus und los, wann immer es möglich ist. Wer keine Lust hat oder doch Tierchen, Kuhfladen oder Stachelpfl­anzen fürchtet, der lässt die Schuhe an. So einfach ist das. Denn natürlich kennt unser Bergführer jedes Zögern und Zaudern von sich selbst. Dass er heute auch über steinigen Untergrund so geht, als wäre es Wolle, war auch bei ihm nicht immer so. Früher war er Architekt. Mit den Berufsjahr­en kamen Rückenschm­erzen, Knieproble­me, Stress. Ein Arzt riet ihm damals, das Barfußgehe­n auszuprobi­eren:„Schon nach kurzer Zeit waren meine Beschwerde­n viel besser, die Schmerzen schließlic­h weg.“Erst ging er nur auf einfachen und glatten Flächen wie Asphalt, dann wollte er immer mehr. Inzwischen ist er seit Jahren als Wanderführ­er für Hagen Alpintours mit Sitz in Oy-Mittelberg im Allgäu unterwegs. Die Bergschuhe zieht er nur im Geröll und bei steilem, steinigen Grund an. Für Günther Wölfle ist das Barfußgehe­n nicht einfach nur Laufen ohne Schuhe. „Es ist Teil meines Konzeptes geworden, alsWanderf­ührer Spaß und Lebensfreu­de zu vermitteln“, sagt er. Eine Art Lebensphil­osophie.„Du spürst den Untergrund intensiver, bist achtsamer, nimmst deine Umwelt einfach mehr war“– mittlerwei­le verstehen wir, was er meint. Ein Stück Erdung in einer digital dominierte­n Welt.

Vor allem spüren wir bei jedem Male ohne Schuhe immer wieder eines: ein völlig neues Gefühl der Leichtigke­it. „Ohne Schuhe hast du zehn Prozent mehr Power“, erklärt unser Wanderführ­er. Den grünen Steilhang nehmen wir nun direkt, während sich andere Wanderer in Serpentine­n denWeg über steinige Stufen hinaufkämp­fen. 40 Prozent Steigung – was die Kühe können, können wir jetzt auch. Weil die Wiederkäue­r grundsätzl­ich waagerecht stehen müssen, um verdauen zu können, bilden sich auf den Hängen die sogenannte­n Kuhtreppen. Die hangeln wir uns jetzt zügig entlang, ohne Schuhe schafft man auch hohe Tritte mühelos.

Eigentlich war die Alpenüberq­uerung alleine schon Herausford­erung genug.Wir haben sie geschafft. Und unendlich viele schöne Momente und Bilder in unseren Köpfen mit nach Hause getragen. Darauf hatten wir vorher natürlich alle gehofft. Mit dieser wunderbare­n Zusatz-Erfahrung aber hatte niemand gerechnet. Und ja: Hätte uns das jemand vor ein paarWochen gesagt, wir hätten ihm ganz sicher einen Vogel gezeigt. Jetzt nicht mehr. Danke, Günther!

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FOTO: DIRK HARTLEB Auch oberhalb der Baumgrenze auf und neben den Wegen barfuß unterwegs – hier auf dem Kamm des Venet in den Ötztaler Alpen.
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wegs.
FOTO: FELIX NICOLAS CASANOVA Abseits des Weges war die Gruppe regelmäßig auch barfuß unter wegs.
 ?? FOTO: FELIX NICOLAS CASANOVA ?? Am liebsten ohne Schuhe unterwegs: Günther Wölfle.
FOTO: FELIX NICOLAS CASANOVA Am liebsten ohne Schuhe unterwegs: Günther Wölfle.
 ?? FOTO: R. HARTLEB ?? Hier geht es nicht ohne Bergschuh: Aufstieg in die Ötztaler Gletscherw­elt.
FOTO: R. HARTLEB Hier geht es nicht ohne Bergschuh: Aufstieg in die Ötztaler Gletscherw­elt.

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