TOTAL DIGITAL Aufräumvideos gegen Stress
Entrümpelungs-Clips auf Youtube oder Netflix haben Konjunktur.
Ich muss etwas gestehen: Manchmal, wenn ich allein bin und mich angespannt fühle, mache ich eine kurze Pause von der Arbeit, nehme mein Handy und gehe gezielt auf Youtube, um meinen Stress abzubauen: mit Entrümpelungsvideos. Und damit bin ich offensichtlich nicht allein; auf Netflix zum Beispiel gibt es mittlerweile unzählige Aufräumshows! Einem Fremden dabei zuzusehen, wie er meisterhaft einen Stapel Hemden zu ordentlichen, vertikalen Bündeln faltet oder Nudeln aus einer gekauften Verpackung in durchsichtige Glasbehälter mit hübschen Etiketten umfüllt, ist für viele zum heimlichen Vergnügen geworden.
Aber warum ist das so? Bieten uns diese aufgeräumten Momente eine Oase der Ordnung in einer Welt, die sich zunehmend chaotisch anfühlt? Das menschliche Gehirn mag Ordnung sehr. Weniger Reize um uns herum tragen maßgeblich zur Entspannung bei. Doch während wir im virtuellen Leben den Glanz einer aufgeräumten Abstellkammer genießen, schieben wir es im echten Leben immer noch vor uns her, die vorherrschende Unordnung in unserem Leben in Angriff zu nehmen.
Manche Menschen mögen durch die Videos ja motiviert sein, sich neu zu organisieren, bei mir hört es an diesem Punkt aber leider schon auf. Bestseller-Autorin und Social-Media-Guru Marie Kondo predigt schon seit ein paar Jahren, dass Aufräumen die Voraussetzung für große Veränderungen im Leben darstellt. Große Veränderungen? Das lähmt mich und vermutlich mindestens die Hälfte aller Fans ihrer Show ebenso, die zusehen, aber selbst nie zur Handlung kommen. Wir befriedigen unser Aufräumbedürfnis eben, indem wir anderen dabei zusehen.
Mit Sport ist es doch eigentlich nicht anders. Man schaut sich gerne Sport im Fernsehen an, verlässt die Couch danach aber nur ungern. Woher kommt überhaupt der Druck, selbst unbedingt aktiv werden zu müssen? Letztlich ist doch alles Entertainment und dabei darf es auch bleiben. Wer hat schon Lust auf ein ewig schlechtes Gewissen?