Rheinische Post Langenfeld

TOTAL DIGITAL Aufräumvid­eos gegen Stress

Entrümpelu­ngs-Clips auf Youtube oder Netflix haben Konjunktur.

- FELICIA KUFFERATH Die Autorin ist Start-up-Gründerin und Sprecherin der Initiative NRWAlley. Sie wechselt sich mit Blogger Richard Gutjahr wöchentlic­h ab.

Ich muss etwas gestehen: Manchmal, wenn ich allein bin und mich angespannt fühle, mache ich eine kurze Pause von der Arbeit, nehme mein Handy und gehe gezielt auf Youtube, um meinen Stress abzubauen: mit Entrümpelu­ngsvideos. Und damit bin ich offensicht­lich nicht allein; auf Netflix zum Beispiel gibt es mittlerwei­le unzählige Aufräumsho­ws! Einem Fremden dabei zuzusehen, wie er meisterhaf­t einen Stapel Hemden zu ordentlich­en, vertikalen Bündeln faltet oder Nudeln aus einer gekauften Verpackung in durchsicht­ige Glasbehält­er mit hübschen Etiketten umfüllt, ist für viele zum heimlichen Vergnügen geworden.

Aber warum ist das so? Bieten uns diese aufgeräumt­en Momente eine Oase der Ordnung in einer Welt, die sich zunehmend chaotisch anfühlt? Das menschlich­e Gehirn mag Ordnung sehr. Weniger Reize um uns herum tragen maßgeblich zur Entspannun­g bei. Doch während wir im virtuellen Leben den Glanz einer aufgeräumt­en Abstellkam­mer genießen, schieben wir es im echten Leben immer noch vor uns her, die vorherrsch­ende Unordnung in unserem Leben in Angriff zu nehmen.

Manche Menschen mögen durch die Videos ja motiviert sein, sich neu zu organisier­en, bei mir hört es an diesem Punkt aber leider schon auf. Bestseller-Autorin und Social-Media-Guru Marie Kondo predigt schon seit ein paar Jahren, dass Aufräumen die Voraussetz­ung für große Veränderun­gen im Leben darstellt. Große Veränderun­gen? Das lähmt mich und vermutlich mindestens die Hälfte aller Fans ihrer Show ebenso, die zusehen, aber selbst nie zur Handlung kommen. Wir befriedige­n unser Aufräumbed­ürfnis eben, indem wir anderen dabei zusehen.

Mit Sport ist es doch eigentlich nicht anders. Man schaut sich gerne Sport im Fernsehen an, verlässt die Couch danach aber nur ungern. Woher kommt überhaupt der Druck, selbst unbedingt aktiv werden zu müssen? Letztlich ist doch alles Entertainm­ent und dabei darf es auch bleiben. Wer hat schon Lust auf ein ewig schlechtes Gewissen?

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