Stimmungsmache gegen Deutschland
Eine gigantische Zahl treibt die rechtskonservative Regierungspartei Polens (PiS) gerade um: 1,3 Billionen Euro. Auf diese Summe haben polnische Gutachter die Kosten des deutschen Überfalls und der Besetzung Polens im Zweiten Weltkrieg beziffert. Ihr Bericht liegt schon länger vor, doch erst in diesem Jahr hat der Chef der PiS, Jaroslaw Kaczynski, den Jahrestag des deutschen Angriffs genutzt, um das Gutachten vorzustellen – und Reparationsforderungen anzukündigen. Noch wurde keine diplomatische Note übergeben, aber wer in diesen Tagen mit hochrangigen Regierungsvertretern in Warschau spricht, wird an provisorisch aufgestellten Schautafeln vorbeigeschickt – mit Fotos von zertrümmerten polnischen Städten und im Krieg getöteten Kindern. Im Gespräch steht die deutsche Schuld an erster Stelle – noch vor Energiekrise und den Differenzen bei den Waffenlieferungen an die Ukraine.
Tatsächlich werden das enorme Leid und die materiellen Verluste Polens durch den Angriff der Deutschen in der Wahrnehmung des Zweiten Weltkriegs oft zu wenig beachtet. Dass Polen aber gerade jetzt ein älteres Gutachten öffentlich macht, das die deutsch-polnischen Verhältnisse langfristig belasten könnte, hat politische Gründe.
Innenpolitische sagen viele. Im kommenden Jahr wird in Polen gewählt, die Regierungspartei PiS muss um die Macht fürchten und hat mit der Reparationsforderung ein Dauerthema gefunden, mit dem sie Stärke beweisen und die Opposition in die Enge treiben kann. Kritiker lassen sich leicht als unpatriotisch diffamieren. Außerdem hofft die PiS, mit Stimmung gegen Deutschland bei Wählern zu punkten, die in der EU eine von den westlichen Großmächten
Deutschland und Frankreich dominierte „imperiale Macht“sehen, die Polens Souveränität unterwandern wolle. Diese Vorstellung wird von der PiS genährt – etwa über die staatsnahen TV-Sender. Sie liefert auch ein willkommenes Erklärungsmuster, wenn es um Auseinandersetzungen mit der EU geht.
Etwa wegen der umstrittenen Justizreform. Die Regierung hatte eine Disziplinarkammer am Obersten Gericht geschaffen, die Aufsicht über alle Richter führen sollte. Weil eine derartige politische Einflussnahme auf die Justiz gegen das demokratische Prinzip der Gewaltenteilung und damit gegen Grundwerte der EU verstößt, hat die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen eingeleitet und Gelder eingefroren. 23,9 Milliarden Euro plus 11,5 Milliarden Euro Darlehen soll Polen aus dem Corona-Fonds bekommen. Das Geld wird in den Regionen bereits verplant. Doch die Regierung weigert sich bisher, den EU-Mahnungen zur Rechtsstaatlichkeit nachzukommen. Zwar strich sie die erst geplante Disziplinarkammer – setzte aber unter anderem Namen ein ähnliches Gremium wieder ein.
Die PiS ist auf Konfrontationskurs, pro-europäische Kräfte, die es im Land selbstverständlich genauso gibt, sollen marginalisiert werden. Polen ist größter Nettoempfänger der EU, hat dafür seine Märkte geöffnet. Wer davon profitiert, ist leicht zu sehen, wenn man in Polen einkauft – und auf deutsche Drogeriemärkte und Discounter oder französische Supermärkte trifft. Doch trotz der enormen Entwicklung, die Polen dank der Milliarden aus Brüssel machen konnte, sind gerade Politiker an der Macht, die grundlegende Werte der Gemeinschaft offen ablehnen, und so tun, als würden in Brüssel mit Mitteln wie dem Rechtsstaatsverfahren Spielchen gespielt, um auf einen Regierungswechsel inWarschau hinzuwirken – also die Souveränität des Landes anzugreifen. Und hinter allem stecke in erster Linie Deutschland.
Dass die PiS diesen Kurs gerade so offensiv vertritt, hat auch mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine zu tun. Polen hat Recht behalten mit seinen Warnungen vor Russland. Es wettert gegen den früheren Russlandkurs der Deutschen, kritisiert die zögerlichen Waffenlieferungen an die Ukraine und weiß sich darin eins mit anderen östlichen Mitgliedsstaaten. Daraus leitet Polen einen neuen Führungsanspruch ab.
Die polnischen Rechtspopulisten machen auch kein Hehl daraus, dass sie ein anderes Europa wollen und sich dazu mit anderen Rechtspopulisten in der EU verbünden wollen. Ungarn fällt wegen seiner prorussischen Haltung als Partner gerade aus, doch wollen die Rechtspopulisten in Polen langfristig an der Spitze einer Bewegung stehen, die eine illiberale EU vorantreibt.
„Die Aggression Russlands gegen die Ukraine hat die EU östlicher gemacht“, sagt Marek Prawda, ehemaliger Botschafter Polens in Deutschland und der EU. Es habe in der Tat eine schwere Fehleinschätzung Russlands bei westlichen Mitgliedsstaaten gegeben, die holten nun einen differenzierteren Blick auf den Osten nach.„Für die Zukunft müsste Deutschland eigentlich eine kooperative Führungsrolle einnehmen – mit einer wahrnehmbaren Beteiligung östlicher Partner“, sagt Prawda, doch die seien derzeit nicht bereit. „Die polnischen Regierungseliten verspielen eine historische Chance, weil sie die Beziehungen zu Deutschland vergiften und Reformen in der EU blockieren“, sagt Prawda. Polen stehe vor der Wahl, sich an einer Treibjagd gegen Deutschland zu beteiligen oder an einer kollektiven Antwort auf Putin mitzuarbeiten.
Mit ihrer Ankündigung, Deutschland noch im Oktober auch offiziell eine Reparationsforderung zu überreichen, hat die aktuelle Regierung Polens klar gemacht, wofür sie sich entschieden hat.
Polens Regierung sieht sich an der Spitze rechtspopulistischer Kräfte in der EU