Eine Welt im Umbruch
„Nachleben“des Literaturnobelpreisträgers Abdulrazak Gurnah ist jetzt erstmals auf Deutsch erschienen.
Ob er über seine Erfahrungen schreibe, wurde Abdulrazak Gurnah in einem Interview nach der Verleihung des Literaturnobelpreises gefragt. „Gewiss. Und zugleich nein“, antwortete der 1948 im Sultanat Sansibar geborene Autor, der als Flüchtling mit 18 Jahren nach Großbritannien kam. „Was ich schreibe, ist nicht nur meine Erfahrung. Millionen Menschen sind in dieser Lage, in unserer Zeit, in der Menschheitsgeschichte, zu allen Zeiten.“In einer Welt, in der Migration und postkoloniale Debatten die Öffentlichkeit bewegen, treffen Abdulrazak Gurnahs Bücher auch damit einen Nerv.
In seinen zehn Romanen geht es um Displacement, Entwurzelung, Migration. Obwohl er seit fast 60 Jahren in Großbritannien lebt, kehrt seine Fantasie immer wieder nach Afrika zurück. Das ist auch im Roman „Nachleben“von 2020, der jetzt von Eva Bonné übersetzt auf Deutsch herauskommt und da ansetzt, wo „Das verlorene Paradies“(1994) aufhört. War es darin der jungeYusuf, der von den verschuldeten Eltern einem reichen Kaufmann verpfändet wird und sich am Ende den Schutztruppen anschließt, die die deutschen Kolonialherren in freiwilliger Loyalität unterstützen, so heißt der Held im aktuellen Roman Hamza. Auch er schließt sich den Askaris an, schlägt mit den Deutschen die Aufstände der Abushiri und der Hehe nieder und kämpft gegen die Briten. Als der Krieg 1918 vorbei ist, kehrt er als Krüppel in die Stadt seiner Eltern zurück.
Mühsam baut er sich eine neue Existenz auf und heiratet Afiya, deren Bruder Ilyas als Askari im Krieg verschollen ist. Im Gedenken an ihn nennen sie ihren Sohn ebenfalls Ilyas. Nach Jahren desWartens und der Ungewissheit stellt sich heraus, dass der Bruder nach Deutschland ging und in den 30er-Jahren als Sänger durch Bars tingelte. Seine Spuren verlieren sich im Konzentrationslager Sachsenhausen. Mit einem Schock endet so Abdulrazak Gurnahs bewegender Roman über koloniale Herrschaft wie auch die Suche nach der eigenen Identität.
Abdulrazak Gurnah erzählt von einer Welt im Umbruch, die nach der Aneignung durch die selbst ernannten „Kolonialherren“nie wieder so sein wird, wie sie einmal war. Das sensible Gleichgewicht aus Indern, Arabern und Afrikanern, die miteinander Handel treiben, wird durch die Deutschen und Briten zerstört, die ihren Gebieten eine Monokultur brutal aufdrängen.Wie schon „Das verlorene Paradies“spielt auch „Nachleben“in einer Zeit, in der Gurnah selbst noch nicht geboren war. „Geschichte“, so Gurnah, ist sehr wichtig, denn wir verstehen nichts, wenn wir nicht die Dummheiten kennen, die sich vor unserer Zeit ereigneten.“
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