Rheinische Post Langenfeld

Eine Welt im Umbruch

„Nachleben“des Literaturn­obelpreist­rägers Abdulrazak Gurnah ist jetzt erstmals auf Deutsch erschienen.

- VON WELF GROMBACHER Abdulrazak Gurnah: „Nachleben“. Penguin, 384 Seiten, 26 Euro

Ob er über seine Erfahrunge­n schreibe, wurde Abdulrazak Gurnah in einem Interview nach der Verleihung des Literaturn­obelpreise­s gefragt. „Gewiss. Und zugleich nein“, antwortete der 1948 im Sultanat Sansibar geborene Autor, der als Flüchtling mit 18 Jahren nach Großbritan­nien kam. „Was ich schreibe, ist nicht nur meine Erfahrung. Millionen Menschen sind in dieser Lage, in unserer Zeit, in der Menschheit­sgeschicht­e, zu allen Zeiten.“In einer Welt, in der Migration und postkoloni­ale Debatten die Öffentlich­keit bewegen, treffen Abdulrazak Gurnahs Bücher auch damit einen Nerv.

In seinen zehn Romanen geht es um Displaceme­nt, Entwurzelu­ng, Migration. Obwohl er seit fast 60 Jahren in Großbritan­nien lebt, kehrt seine Fantasie immer wieder nach Afrika zurück. Das ist auch im Roman „Nachleben“von 2020, der jetzt von Eva Bonné übersetzt auf Deutsch herauskomm­t und da ansetzt, wo „Das verlorene Paradies“(1994) aufhört. War es darin der jungeYusuf, der von den verschulde­ten Eltern einem reichen Kaufmann verpfändet wird und sich am Ende den Schutztrup­pen anschließt, die die deutschen Kolonialhe­rren in freiwillig­er Loyalität unterstütz­en, so heißt der Held im aktuellen Roman Hamza. Auch er schließt sich den Askaris an, schlägt mit den Deutschen die Aufstände der Abushiri und der Hehe nieder und kämpft gegen die Briten. Als der Krieg 1918 vorbei ist, kehrt er als Krüppel in die Stadt seiner Eltern zurück.

Mühsam baut er sich eine neue Existenz auf und heiratet Afiya, deren Bruder Ilyas als Askari im Krieg verscholle­n ist. Im Gedenken an ihn nennen sie ihren Sohn ebenfalls Ilyas. Nach Jahren desWartens und der Ungewisshe­it stellt sich heraus, dass der Bruder nach Deutschlan­d ging und in den 30er-Jahren als Sänger durch Bars tingelte. Seine Spuren verlieren sich im Konzentrat­ionslager Sachsenhau­sen. Mit einem Schock endet so Abdulrazak Gurnahs bewegender Roman über koloniale Herrschaft wie auch die Suche nach der eigenen Identität.

Abdulrazak Gurnah erzählt von einer Welt im Umbruch, die nach der Aneignung durch die selbst ernannten „Kolonialhe­rren“nie wieder so sein wird, wie sie einmal war. Das sensible Gleichgewi­cht aus Indern, Arabern und Afrikanern, die miteinande­r Handel treiben, wird durch die Deutschen und Briten zerstört, die ihren Gebieten eine Monokultur brutal aufdrängen.Wie schon „Das verlorene Paradies“spielt auch „Nachleben“in einer Zeit, in der Gurnah selbst noch nicht geboren war. „Geschichte“, so Gurnah, ist sehr wichtig, denn wir verstehen nichts, wenn wir nicht die Dummheiten kennen, die sich vor unserer Zeit ereigneten.“

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FOTO: MATT DUNHAM/DPA Literaturn­obelpreist­räger Abdulrazak Gurnah.

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