Ratlosigkeit in der Zeitenwende
ANALYSE Der brutale Überfall Russlands auf die Ukraine hat die deutsche Politik kalt erwischt. Erst langsam begreifen Regierung und Opposition, was auf dem Spiel steht. Ihre Antworten sind bislang ungenügend.
Bundeskanzler Olaf Scholz hat mit seiner Aussage von der Zeitenwende den Begriff geprägt, der ein neues Zeitalter in Europa und womöglich auch in der Welt kennzeichnet. Der brutale Überfall Russlands auf die Ukraine hat ähnlich wie die Terrorattacken auf das World Trade Center 2001 die bisherige Sicherheitsarchitektur nachhaltig erschüttert. Und dieses Urerlebnis einer Katastrophe dürfte für Jahre und Jahrzehnte die Weltpolitik bestimmen.
Christoph Heusgen, der frühere Außenpolitik- und Sicherheitsberater von Kanzlerin Angela
Merkel, hat drei Zeitenwenden in der Geschichte Nachkriegsdeutschlands ausgemacht. Die erste ist die Phase nach der Niederlage 1945, die vier Jahre später in die Gründung eines neuen, demokratischen Staates in Westdeutschland führte. Er wurde zu einer Erfolgsgeschichte, weil sich erstmals ein stabiles demokratisches Deutschland etablieren konnte, fest eingebunden in das westliche Bündnis und auch in dessen Wertestrukturen. Der Altmeister der internationalen Politik, der frühere US-Außenminister Henry Kissinger, drückte es nach über 70 Jahren Bundesrepublik so aus:„Deutschland wurde transformiert und ist ein integrales Mitglied der westlichen Allianz geblieben.“
Die zweite Zeitenwende ist die deutsche Vereinigung nach der friedlichen Revolution in der DDR im Jahr 1989.Wie ein Wunder ging diese zweite deutsche Einheit ohne Blutvergießen, Revanchegelüste und übertriebenes deutsches Geltungsbedürfnis ab. „Deutschland ist von Freunden umzingelt“, sagte der frühere Verteidigungsminister Volker Rühe. Das führt direkt zur dritten Zeitenwende im Februar dieses Jahres und ihren bekannten Folgen. Es war die kollektive Arglosigkeit des Westens und insbesondere Deutschlands, die Kremlherrscher Wladimir Putin für seinen Überraschungsangriff nutzen konnte. „Präsident Putin ist im Laufe seiner Amtszeit immer brutaler geworden – bei der Ausschaltung der Opposition, der Verfolgung von Regimegegnern, der Abschaffung freier Medien. Außenpolitisch ist er aggressiver geworden: Georgien, Krim, Syrien, Ostukraine“, erklärt Außenexperte Heusgen. Dann sei es gelungen, ihn mit dem Minsker Abkommen zur Ostukraine auf einen diplomatischen Weg zurückzubringen. „Doch diesen Weg hat Putin am 24. Februar verlassen, als er gewaltsam die Ukraine angriff“, ergänzt der frühere Top-Beamte. Bis dahin habe sich Putin an Verträge gehalten.
Der frühere Merkel-Berater, der die Bundesrepublik bis 2021 bei den Vereinten Nationen vertrat, will das als Erklärung, nicht als Entschuldigung gewertet wissen. Trotzdem gab es auch zu dieser ZeitWarnungen gegen den Kurs Deutschlands – vor allem von den baltischen Staaten und Polen. Weil aber das günstige russische Gas die deutsche Wirtschaft am Laufen hielt, obwohl das Land gleichzeitig aus der Atomkraft und der Kohle aussteigen wollte und die erneuerbaren Energien nicht in Schwung brachte, wollte die Bundesregierung im Einklang mit Unternehmen und Gewerkschaften davon nichts wissen.
Jetzt macht sich nach der Arglosigkeit Ratlosigkeit breit. Wie stark müssen wir die Ukraine unterstützen? Schlägt Russland brutal zurück, wenn Putin durch militärische Erfolge Kiews oder Proteste im eigenen Land seine Macht zu verlieren droht?Wie geht die hochkomplexe und von russischem Gas abhängige deutsche Wirtschaft mit dem Energiepreisschock um, ohne die eigenen Bürger und Bürgerinnen oder den lebenswichtigen Mittelstand zu überfordern?
„Auf Deutschland kommt es an“, meint der CDU-Außenexperte Norbert Röttgen, der bei der Bundesregierung zu viel Zögerlichkeit, zu viel Ausrede sieht. „Der Krieg darf sich für Putin nicht lohnen“, fügt er hinzu. Doch das ist längst nicht ausgemacht. Noch steht die Unterstützung der Bevölkerung in Deutschland und Europa für die überfallene Ukraine. Vor allem die einst pazifistischen Grünen haben sich zum Prinzip der Selbstverteidigung und der Schutzverantwortung bekannt. „Die klare Haltung meiner Partei zur Ukraine und die konsequente Unterstützung mit Waffen ist Teil unseres Selbstverständnisses einer wertegeleiteten Außenpolitik geworden“, meint Terry Reintke, Grünen-Abgeordnete im Europäischen Parlament, die in Brüssel für den Fraktionsvorsitz kandidiert.
Die neue Gemeinsamkeit von Union und Grünen bei abwartender Position von SPD und Teilen der FDP (nicht jedoch bei Verteidigungsexpertin MarieAgnes Strack-Zimmermann) sowie anhaltendem Putin-Verständnis vieler Linker und der AfD bringt die Konstellationen im politischen Berlin durcheinander. In Europa kommen nach dem Wahlsieg der postfaschistischen Giorgia Meloni und dem Erfolg der rechtspopulistischen Schwedendemokraten weitere Fliehkräfte im westlichen Bündnis hinzu. Die Einigkeit im westlichen Lager ist also längst nicht ausgemacht.
Auch wirtschaftlich steht die Nagelprobe noch aus. An den Börsen ist der Gaspreis um den Faktor zehn nach oben geschnellt. Und viele Firmen zahlen nun das Fünf- bis Achtfache der Bezugskosten, hat die Wirtschaftsweise und Energieexpertin Veronika Grimm herausgefunden. „Der künftige Energiepreis wird wesentlich höher liegen“, prognostiziert die Erlanger Wirtschaftsprofessorin. „Da helfen nur ganz viele kleine Schritte wie Energie sparen, längere Laufzeiten für Atomkraftwerke, gezielte Entlastungen wettbewerbsfähiger Unternehmen“, sagt die Ökonomin. Das bedeutet ein komplexes Makro- wie auch Mikromanagement. Einfach auf die Preise kann man sich nicht mehr verlassen. Politisch wie wirtschaftlich sind die Herausforderungen der dritten Zeitenwende schwer zu bewältigen.
„Putin ist im Laufe seiner Amtszeit immer brutaler geworden“Christoph Heusgen Chef der Münchner Sicherheitskonferenz