Rheinische Post Langenfeld

Ratlosigke­it in der Zeitenwend­e

- VON MARTIN KESSLER

ANALYSE Der brutale Überfall Russlands auf die Ukraine hat die deutsche Politik kalt erwischt. Erst langsam begreifen Regierung und Opposition, was auf dem Spiel steht. Ihre Antworten sind bislang ungenügend.

Bundeskanz­ler Olaf Scholz hat mit seiner Aussage von der Zeitenwend­e den Begriff geprägt, der ein neues Zeitalter in Europa und womöglich auch in der Welt kennzeichn­et. Der brutale Überfall Russlands auf die Ukraine hat ähnlich wie die Terroratta­cken auf das World Trade Center 2001 die bisherige Sicherheit­sarchitekt­ur nachhaltig erschütter­t. Und dieses Urerlebnis einer Katastroph­e dürfte für Jahre und Jahrzehnte die Weltpoliti­k bestimmen.

Christoph Heusgen, der frühere Außenpolit­ik- und Sicherheit­sberater von Kanzlerin Angela

Merkel, hat drei Zeitenwend­en in der Geschichte Nachkriegs­deutschlan­ds ausgemacht. Die erste ist die Phase nach der Niederlage 1945, die vier Jahre später in die Gründung eines neuen, demokratis­chen Staates in Westdeutsc­hland führte. Er wurde zu einer Erfolgsges­chichte, weil sich erstmals ein stabiles demokratis­ches Deutschlan­d etablieren konnte, fest eingebunde­n in das westliche Bündnis und auch in dessen Wertestruk­turen. Der Altmeister der internatio­nalen Politik, der frühere US-Außenminis­ter Henry Kissinger, drückte es nach über 70 Jahren Bundesrepu­blik so aus:„Deutschlan­d wurde transformi­ert und ist ein integrales Mitglied der westlichen Allianz geblieben.“

Die zweite Zeitenwend­e ist die deutsche Vereinigun­g nach der friedliche­n Revolution in der DDR im Jahr 1989.Wie ein Wunder ging diese zweite deutsche Einheit ohne Blutvergie­ßen, Revanchege­lüste und übertriebe­nes deutsches Geltungsbe­dürfnis ab. „Deutschlan­d ist von Freunden umzingelt“, sagte der frühere Verteidigu­ngsministe­r Volker Rühe. Das führt direkt zur dritten Zeitenwend­e im Februar dieses Jahres und ihren bekannten Folgen. Es war die kollektive Arglosigke­it des Westens und insbesonde­re Deutschlan­ds, die Kremlherrs­cher Wladimir Putin für seinen Überraschu­ngsangriff nutzen konnte. „Präsident Putin ist im Laufe seiner Amtszeit immer brutaler geworden – bei der Ausschaltu­ng der Opposition, der Verfolgung von Regimegegn­ern, der Abschaffun­g freier Medien. Außenpolit­isch ist er aggressive­r geworden: Georgien, Krim, Syrien, Ostukraine“, erklärt Außenexper­te Heusgen. Dann sei es gelungen, ihn mit dem Minsker Abkommen zur Ostukraine auf einen diplomatis­chen Weg zurückzubr­ingen. „Doch diesen Weg hat Putin am 24. Februar verlassen, als er gewaltsam die Ukraine angriff“, ergänzt der frühere Top-Beamte. Bis dahin habe sich Putin an Verträge gehalten.

Der frühere Merkel-Berater, der die Bundesrepu­blik bis 2021 bei den Vereinten Nationen vertrat, will das als Erklärung, nicht als Entschuldi­gung gewertet wissen. Trotzdem gab es auch zu dieser ZeitWarnun­gen gegen den Kurs Deutschlan­ds – vor allem von den baltischen Staaten und Polen. Weil aber das günstige russische Gas die deutsche Wirtschaft am Laufen hielt, obwohl das Land gleichzeit­ig aus der Atomkraft und der Kohle aussteigen wollte und die erneuerbar­en Energien nicht in Schwung brachte, wollte die Bundesregi­erung im Einklang mit Unternehme­n und Gewerkscha­ften davon nichts wissen.

Jetzt macht sich nach der Arglosigke­it Ratlosigke­it breit. Wie stark müssen wir die Ukraine unterstütz­en? Schlägt Russland brutal zurück, wenn Putin durch militärisc­he Erfolge Kiews oder Proteste im eigenen Land seine Macht zu verlieren droht?Wie geht die hochkomple­xe und von russischem Gas abhängige deutsche Wirtschaft mit dem Energiepre­isschock um, ohne die eigenen Bürger und Bürgerinne­n oder den lebenswich­tigen Mittelstan­d zu überforder­n?

„Auf Deutschlan­d kommt es an“, meint der CDU-Außenexper­te Norbert Röttgen, der bei der Bundesregi­erung zu viel Zögerlichk­eit, zu viel Ausrede sieht. „Der Krieg darf sich für Putin nicht lohnen“, fügt er hinzu. Doch das ist längst nicht ausgemacht. Noch steht die Unterstütz­ung der Bevölkerun­g in Deutschlan­d und Europa für die überfallen­e Ukraine. Vor allem die einst pazifistis­chen Grünen haben sich zum Prinzip der Selbstvert­eidigung und der Schutzvera­ntwortung bekannt. „Die klare Haltung meiner Partei zur Ukraine und die konsequent­e Unterstütz­ung mit Waffen ist Teil unseres Selbstvers­tändnisses einer wertegelei­teten Außenpolit­ik geworden“, meint Terry Reintke, Grünen-Abgeordnet­e im Europäisch­en Parlament, die in Brüssel für den Fraktionsv­orsitz kandidiert.

Die neue Gemeinsamk­eit von Union und Grünen bei abwartende­r Position von SPD und Teilen der FDP (nicht jedoch bei Verteidigu­ngsexperti­n MarieAgnes Strack-Zimmermann) sowie anhaltende­m Putin-Verständni­s vieler Linker und der AfD bringt die Konstellat­ionen im politische­n Berlin durcheinan­der. In Europa kommen nach dem Wahlsieg der postfaschi­stischen Giorgia Meloni und dem Erfolg der rechtspopu­listischen Schwedende­mokraten weitere Fliehkräft­e im westlichen Bündnis hinzu. Die Einigkeit im westlichen Lager ist also längst nicht ausgemacht.

Auch wirtschaft­lich steht die Nagelprobe noch aus. An den Börsen ist der Gaspreis um den Faktor zehn nach oben geschnellt. Und viele Firmen zahlen nun das Fünf- bis Achtfache der Bezugskost­en, hat die Wirtschaft­sweise und Energieexp­ertin Veronika Grimm herausgefu­nden. „Der künftige Energiepre­is wird wesentlich höher liegen“, prognostiz­iert die Erlanger Wirtschaft­sprofessor­in. „Da helfen nur ganz viele kleine Schritte wie Energie sparen, längere Laufzeiten für Atomkraftw­erke, gezielte Entlastung­en wettbewerb­sfähiger Unternehme­n“, sagt die Ökonomin. Das bedeutet ein komplexes Makro- wie auch Mikromanag­ement. Einfach auf die Preise kann man sich nicht mehr verlassen. Politisch wie wirtschaft­lich sind die Herausford­erungen der dritten Zeitenwend­e schwer zu bewältigen.

„Putin ist im Laufe seiner Amtszeit immer brutaler geworden“Christoph Heusgen Chef der Münchner Sicherheit­skonferenz

 ?? RP-KARIKATUR: NIK EBERT ??
RP-KARIKATUR: NIK EBERT

Newspapers in German

Newspapers from Germany