Zwischen Panik und Protest
Mit der Teilmobilmachung der russischen Streitkräfte will Kremlchef Putin eine Wende im Krieg gegen die Ukraine herbeiführen. Doch statt Patriotismus macht sich im Volk Entsetzen breit.
MOSKAU (dpa) Es ist kühl, es regnet, und auch die vielen Polizisten und Gefangenentransporter schrecken eigentlich eher vom Demonstrieren ab. Trotzdem sind mehr als 100 Menschen ins Zentrum von Moskau gekommen, um gegen die von KremlchefWladimir Putin angeordnete Teilmobilmachung zu protestieren. Eine junge Frau mit beiger Herbstjacke und geblümtem Kopftuch steigt auf eine Bank und ruft: „Wir sind kein Fleisch!“Sofort stürmen Einsatzkräfte heran, zerren sie weg. „Wir sind kein Fleisch! Wir sind kein Fleisch!“, ruft die Frau weiter, bis sie in einen der Transporter verfrachtet wird. Immer wieder hört man von dort das Knacken von Elektroschockern.
Auch in anderen russischen Städten gingen jetzt bereits zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit Menschen auf die Straßen. Es sind die größten Anti-Kriegs-Proteste seit Russlands Einmarsch ins Nachbarland Ukraine am 24. Februar. Videos aus der Ostsee-Metropole St. Petersburg zeigten, wie vermummte Sicherheitskräfte mit Schlagstöcken auf Demonstranten einprügeln. Am Samstagabend zählte die Bürgerrechtsorganisation OVD-Info landesweit mehr als 700 Festnahmen.
Aus Verzweiflung über seine drohende Einberufung zum Krieg gegen die Ukraine hat sich ein Mann
in Russland Medienberichten zufolge selbst angezündet. Das Medium„Nowaja Gaseta“veröffentlichte am Montag dasVideo einer Überwachungskamera, auf dem zu sehen ist, wie sich eine Person mit einer Flüssigkeit übergießt und kurz darauf am ganzen Körper brennt. Augenzeugen zufolge rief der brennende Mann am Busbahnhof in der Stadt Rjasan rund 200 Kilometer südöstlich von Moskau: „Ich will nicht an die Front“, bevor die Flammen von Polizisten gelöscht wurden.
Mit dem Beginn der Mobilmachung von Reservisten betrifft der
Krieg gegen die Ukraine, den viele Russen bislang verdrängt haben, nun so gut wie jede Familie in dem Riesenland mit seinen 146 Millionen Einwohnern. Bei vielen herrscht blanke Panik. Sieben Monate nach dem Einmarsch in die Ukraine hat Putin offenbar die Rechnung ohne einen großen Teil seiner Bevölkerung gemacht.
In sozialen Netzwerken kursieren Videos vom Abtransport von Männern, der nur Stunden nach Putins TV-Ansprache am Mittwoch begann. Kremlkritiker veröffentlichen Aufnahmen von wei
nenden Ehefrauen und Müttern an Bahnstationen und Busbahnhöfen. „Papa, tschüss“, schluchzt eine Kinderstimme in einem viel beachteten Clip. In Chatgruppen berichten Menschen davon, wie Männer im wehrpflichtigen Alter ohne Vorwarnung abgeholt werden.
Immer wieder wurden in den vergangenen Monaten Umfragen zitiert, denen zufolge die Mehrheit der Russen den Krieg unterstützt. Soziologen wiesen allerdings schon früh darauf hin, dass viele Befragte mit Unbehagen statt Enthusiasmus auf die Kämpfe blickten. Schon jetzt ist die russische Sprache um ein neues Wort reicher geworden: „Mogilisazija“– eine Mischung aus den Begriffen „Mobilisierung“und „Grab“. Viele Russen sind überzeugt: Sie sind nur Kanonenfutter, sollen verheizt werden für die Ziele eines Kriegs, an denen selbst ihre Berufsarmee scheitert.
Unter dem Druck ukrainischer Gegenoffensiven hat die sich zuletzt aus dem ostukrainischen Gebiet Charkiw zurückgezogen. Nun braucht es eine große Anzahl Soldaten, um zumindest die besetzten Teile der Gebiete Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson zu halten, die Moskau mithilfe von derzeit laufenden Scheinreferenden annektieren möchte. Für Wut in der russischen Bevölkerung sorgt zudem, dass einfache Bürger gezwungen werden, ihr Leben zu riskieren, während Mitglieder der politischen Führung unbeschadet davon kommen.
Insgesamt 300.000 Männer sollen laut Verteidigungsminister Sergej Schoigu eingezogen werden. Laut „Nowaja Gaseta“soll es der Kreml insgeheim sogar auf eine Million Rekruten abgesehen haben. Putins Sprecher dementierte das zwar kürzlich – doch viele Russen haben das Vertrauen in Aussagen ihrer politischen Führung verloren. In Wolgograd (früher Stalingrad) wurde Medienberichten zufolge ein 63-jähriger, an Diabetes erkrankter Mann eingezogen – obwohl offiziell nur bis 55-Jährige kämpfen sollen. Die Analysten des Institute for the Study of War schreiben: „Das russische Mobilisierungssystem wird vermutlich sogar daran scheitern, die Mobilisierungsreserven von schlechter Qualität zu produzieren, die Putins Pläne vorgesehen hätten.“
An den Grenzen zu Russlands Nachbarländern stauen sich unterdessen Autokolonnen. Flüge ins Ausland sind auf Tage ausverkauft.