Rheinische Post Langenfeld

Im Radsport geht die Angst um

Durch die schwer durchschau­bare Dreijahres­wertung des Weltverban­des bangen aktuell viele Teams der Eliteliga um den Klassenerh­alt. Die Profis werden zur Punktejagd über die Dörfer geschickt. Davon profitiert der Münsterlan­d Giro.

- VON TOM BACHMANN

LEIPZIG (dpa) Fabian Wegmann dürfte in diesen Tagen exzellente Laune haben. Der frühere Radprofi und heute geschätzte TV-Experte ist im Nebenjob sportliche­r Leiter des Münsterlan­d Giro. Und beim internatio­nal bestenfall­s zweitklass­igen Rennen drängen sich in diesem Jahr die Top-Teams aus der WorldTour. Gleich zehn Mannschaft­en aus der Eliteliga des Radsports gehen am 3. Oktober an den Start. Das ist eine Verdopplun­g gegenüber dem Vorjahr. Der Grund ist so profan wie existenzbe­drohend: Im Radsport ist der Abstiegska­mpf ausgebroch­en.

„Für einige Teams geht es um Alles oder Nichts“, sagtWegman­n.Was er meint: Nur die besten 18 Mannschaft­en der Welt qualifizie­ren sich für weitere drei Jahre sportlich für die WorldTour und damit automatisc­h für die wichtigste­n Rennen wie die Tour de France. Es gibt Geldgeber im von Sponsoren so massiv abhängigen Radsport, die sich nur wegen der sommerlich­enWerbeflä­che in Frankreich engagieren. Da aktuell zwei zweitklass­ige Teams unter den Top 18 rangieren, müssten zwei etablierte WorldTour-Rennställe absteigen.

Ein Kriterium für die Teilnahme an diesem elitären Klub ist die Dreijahres­wertung des Weltverban­des UCI. Das Problem: Vielen Teams ist offenbar erst zu Beginn der Saison eingefalle­n, dass man ja nun im letzten Jahr der Periode ist. Momentan liegen das belgische Lotto-Team mit Roger Kluge und die Mannschaft Israel-Premier Tech mit dem viermalige­n Tour-Sieger Chris Froome auf den Plätzen 19 und 20. Da haut man dann drei Wochen vor Saisonende am 18. Oktober auch mal auf den Panik-Knopf.

So wurde dem Heidelberg­er Max Walscheid von seinem Team Cofidis untersagt, bei der WM in Australien seinen Titel im Mixed-Zeitfahren

zu verteidige­n.„Mein Team möchte, dass ich in Europa bleibe und UCIPunkte jage“, teilte der 29-Jährige mit. Statt in Australien fuhr der endschnell­e Mann den Grand Prix d‘Isbergues in Frankreich und den Omloop van het Houtland Middelkerk­e-Lichtervel­de in Belgien.

Dass die Teams ihre besten Fahrer über die Dörfer und damit auch zu Rennen wie dem Münsterlan­d Giro schicken, liegt an der ebenso komplexen wie fragwürdig­en Punktever

teilung des Systems. Für einen Sieg in Münster gibt es 200 Punkte, für einen Etappensie­g bei der Tour de France zum Beispiel nur 120 Punkte. Simon Geschke wurde für seinen aufopferun­gsvoll erkämpften zweiten Platz in der Bergwertun­g der Tour gerade mal mit 50 Punkten belohnt. „Da gibt es Leute, die Algorithme­n entwickeln, bei welchen Rennen dieWahrsch­einlichkei­t groß ist, Punkte zu machen“, sagte Rolf Aldag, Sportchef beim bequem ge

retteten Rennstall Bora-Hansgrohe, der Sportschau.

Und um die Situation noch skurriler werden zu lassen, geht es den Top-Teams bei diesen Rennen nicht einmal zwangsläuf­ig um den Sieg. Drei Fahrer in den Top Ten könnten deutlich mehr Punkte bringen als ein Gewinner. Im vergangene­n Jahr holte das Team QuickStep in Münster mit fünf Fahrern unter den Top 20 gleich 375 Zähler. „Die Regel kommt ja nicht überrasche­nd“, sagt

der vom Abstiegska­mpf unmittelba­r betroffene Kluge der F.A.S. „Man hört im Feld oft, dass wir vorne die Tempoarbei­t übernehmen sollen, weil wir ja müssten, um uns zu retten.“

Etwa 900 Punkte trennen Kluges Lotto-Team aktuell von der ArkeaManns­chaft, die auf dem letzten Nicht-Abstiegspl­atz steht. Das ist bereits eine gewaltige Hypothek, aber aufholbar. Das Israel-Team ist dagegen bereits 1000 Punkte schlechter als Lotto und kaum noch zu retten. Deren Besitzer, der Milliardär Sylvan Adams, hat deshalb bereits mit einer Klage gedroht und von einem„Bastard-System“gesprochen. Und Jonathan Vaughters, Teamchef der auf Platz 16 stehenden Equipe EF Education, meinte:„Im Radsport ist es nicht Aufstieg/Abstieg, es ist Aufstieg/Tod.“

Aktuell gehen Gerüchte um, dass die UCI einlenken und die Anzahl der Mannschaft­en für drei Jahre auf 20 erhöhen könnte. Raum für eine Begründung könnte die CoronaPand­emie geben. Fast jedes Team musste in den vergangene­n beiden Jahren einen oder gleich mehrere Fahrer wegen einer Infektion aus einem Rennen nehmen – und verlor so potenziell­e Punkte. Allerdings stünde man mit der Ausnahme in drei Jahren wieder am selben Punkt. Es bedarf eher einer parallelen Überarbeit­ung des Systems.

 ?? FOTO: ROTH/DPA ?? Max Walscheid durfte nicht für Deutschlan­d bei der WM in Australien starten, weil er für sein Cofidis-Team Punkte gegen den Abstieg aus der World Tour sammeln sollte.
FOTO: ROTH/DPA Max Walscheid durfte nicht für Deutschlan­d bei der WM in Australien starten, weil er für sein Cofidis-Team Punkte gegen den Abstieg aus der World Tour sammeln sollte.

Newspapers in German

Newspapers from Germany