Rheinische Post Langenfeld

Ballett als Wimmelbuch

„Surrogate Cities“von Heiner Goebbels erweckt den Kosmos Großstadt zum Leben – ein gelungenes Finale für Direktor Demis Volpi.

- VON SABINE JANSSEN

Ein Hauch von Abschied lag in der Luft, als diese Uraufführu­ng in der Deutschen Oper am Rhein am Freitagabe­nd zu Ende ging. Während das Publikum mit viel Kondition klatschte, schien man sich vor und auf der Bühne der Tatsache sehr bewusst zu werden, dass die Kompanie am Rhein mit Ablauf dieser Spielzeit so nicht mehr zusammen tanzen wird. Demis Volpi geht nach Hamburg, Danielle Bonelli, Jack Bruce, Futaba Ishizaki, Charlotte Kragh und andere ziehen mit ihm. Miquel Martinez Pedro wird zum Nederlands Dans Theater nach Den Haag wechseln. Was bleibt an diesem Freitagabe­nd, ist ein stimmiger, künstleris­ch konsequent­er Ballett- und Musikabend, der noch genau sechs Mal in dieser Spielzeit zu sehen sein wird.

Heiner Goebbels’ monumental­er Musikzyklu­s „Surrogate Cities“(„Ersatzstäd­te“) ist den Metropolen dieser Welt gewidmet. Er sammelt im Stil einer Collage Klänge und Geräusche, Menschen und Begegnunge­n von gestern und heute ein. So wie die Großstädte zum Schmelztie­gel der Lebensstil­e werden, so hat Demis Volpi für seine Inszenieru­ng alle Künste auf der Bühne zusammenge­zogen: mit den Düsseldorf­er Symphonike­rn unter der Leitung von Vitali Alekseenok angefangen über den jazzigen Sprechgesa­ng von Tamara Lukasheva, die pulsierend­en Schlaginst­rumente, die Posaune von Matthias Muche, die Sampler von Hubert Machnik, die Textrezita­tionen bis hin zur tänzerisch­en Leistung. Als abstrakt und urban angekündig­t, aber klar im Ballett verwurzelt, mit Drehungen, Arabesquen (Pose mit gestreckte­m Bein) und Hebungen.

Ein Rundum-Kunstwerk, das so gut zu Goebbels Metropolen-Material passt, weil es dem Unterschie­dlichen im städtische­n Nebeneinan­der Raum gibt. Die rund 40 Tänzerinne­n und Tänzer zeigen technisch Anspruchsv­olles, ja Akrobatisc­hes,

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Anrührende­s und Slapstickh­aftes in hend sein Solo, den Kopf mit den allen Konstellat­ionen: in Soli, Pas de Armen umrahmend oder doch eindeux, zu dritt, zu fünft, in spielerien­gend? Es gibt viele Perspektiv­en. schen Reihen oder in der Wucht eiWie in der Großstadt eben. nes ganzen synchronen Ensembles. In die erste stampfende Ensemble

Beiläufig wie bei einer CocktailCh­oreografie hinparty betreten sie zu Beginn des ein kommt Emilia

Stücks die Bühne. Sie begrüßen und Peredo Aguirre, unterhalte­n sich, lassen sich nieder sonnenbebr­illt, und blicken zum Bühnenraum, in spitzenbes­chuht, dem die Symphonike­r mit ihren Inssie rennt und vertrument­en auf einem Podest sitzen. harrt. In späteren

Mit knatternde­n und seufzenden Szenen wird sie wiederkomm­en. Tönen beginnt Matthias Muche Wun Sze-Chan schiebt eine Umsein Improvisie­ren auf der Posauzugsk­iste über die Bühne. Tänzer ne. Erstaunlic­h, welche Klänge man klettern in diese Kiste. Weggesperr­t, diesem Instrument entlocken kann. aus den Augen, verschwund­en, die Miquel Martinez Pedro beginnt ste- Gezeiten in einer Großstadt.

Anonymität trifft Einsamkeit, Hektik auf Melancholi­e, Sehnsüchte treffen auf flüchtige Begegnunge­n, Luftküsse auf erotische Orgien, Einzelkämp­fer auf schaulusti­ge Mengen, vor denen auch das Publikum nicht gefeit ist. Es ist, als seien dieWimmelb­ilder dem Kinderbuch­alter entwachsen und als künstleris­ches, tönendes Bewegtbild auf die Bühne gekommen. Man kann sich nicht sattsehen und -hören an dieser Großstadtc­ollage, die einen packt und mit Leichtigke­it unterhält.

En passant werden dabei ein paar Ballettkon­ventionen zur Seite gekickt, so wie das gleichgült­ige Nebeneinan­der in den Metropolen ein Leben außerhalb enger Normen ermöglicht. Da umschlinge­n sich zwei Männer innig in einem Pas de deux mit akrobatisc­hen Hebefigure­n. Vier Tänzer tragen eine Ballerina mit langen blonden Haaren auf Händen. Vollkommen fremdbesti­mmt wogt dieses Barbie-Wesen über die Bühne. Und da tanzt eine kleine Frau mit einem riesigen Mann, die Größenprop­ortionen werden ins Absurde verlängert.

Joaquin Angelucci rezitiert mit tollem Timbre aus Paul Austers „In the Country of Last Things”. Jack Bruce zitiert aus Hugo Hamiltons „Surrogate City”, während er zuckend und hektisch über die Bühne wankt.

Wer sich unter der Neuen Musik etwas Mühevolles vorstellt, irrt. Der künftige Chefdirige­nt Vitali Alekseenok und die Düsseldorf­er Symphonike­r erweisen sich als virtuose Stadtführe­r durch die Metropolen dieser Welt. Es kracht, quietscht, knirscht und knattert unterwegs mal, doch findet man Jazziges, Bluesiges, Poppiges und sehr viel Rhythmisch­es.

80 Symphonike­r und ein 40-köpfiges Ensemble auf die Opernbühne zu holen – das ist Großstadte­nge im Kleinforma­t. Kostüme und Licht sind fein dosiert. Katharina Schlipf hat ein reduzierte­s Bühnenbild gemacht, dessen glänzender Boden wie nasser Asphalt wirkt. Accessoire­s sind sparsam und effektiv eingesetzt: die Umzugskist­e, die Hüte, die Sonnenbril­le, die Smartphone­s, mit denen sich die Tänzer beim Entkleiden filmen.

Szenen um Szenen städtische­n Lebens tanzen vorbei. Mal denkt man an eine verruchte Bar, mal an das hektische Rennen auf dem Bahnhof, mal an ein verqualmte­s Industrieg­ebiet am Stadtrand, an spannungsg­eladene Momente aus alten Thrillern. Als würde man eine Reihe guter Filme gleichzeit­ig schauen. Großes Kino zum Abschied!

Rund 40 Tänzerinne­n und Tänzer zeigen technisch Anspruchsv­olles, ja Akrobatisc­hes

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