Rheinische Post Langenfeld

Gestorben für Europa

Savita Wagner aus Bonn brachte sich als Sanitäteri­n in der Ukraine freiwillig in Gefahr. nd Sie verlor ihr Leben, als sie verletzte Kameraden aus einem Gefecht retten wollte.

- VON NICOLAS OTTERSBACH, BONN

Die letzten Monate im Leben von Savita Diana Wagner sind ein Schwindel. Sie ist keine Helferin, die humanitäre Güter in der Ukraine transporti­ert, wie sie es ihrer Mutter in Bonn erzählt. „Snake“, diesen Kampfnamen geben ihr die Kameraden, ist ein „Combat Medic“. Eine Sanitäteri­n, die direkt in die Gefechte zieht, um Verwundete zu versorgen. Wie viele Leben sie gerettet hat? „Wir wissen es nicht. Es müssen unzählige sein“, sagt ein ukrainisch­er Offizier bei ihrer Beerdigung. Am 31. Januar stirbt Savita Diana Wagner im Alter von 36 Jahren durch den Splitter einer Granate, der sie an der Halsschlag­ader trifft, während sie unter Beschuss Verletzte behandelt.

Zu diesem Zeitpunkt ist sie bereits so etwas wie eine Frontheldi­n. Sie ist die Deutsche, die auszog, um die Ukraine und Europa zu verteidige­n. In totaler Dunkelheit verbindet sie schwerste Kriegswund­en, während Granaten explodiere­n. Zerrt die Soldaten aus dem Gefecht, hievt sie mit anderen auf Geländewag­en, um sie abzutransp­ortieren. Ein paar Mal entgeht sie dabei selbst nur knapp dem Tod. Kugeln verfehlen sie oder ein Schrapnell prallt gegen ihr Magazin. Dennoch macht sie weiter.

Sie wächst in Bonn bei ihrer Mutter Ursula Wagner auf. Als Savita ein Jahr alt ist, trennen sich ihre Eltern. „Sie war ein Sommer-, Sonnen-, Sonntagski­nd“, erzählt Ursula Wagner. Auch, wenn die Zeiten nicht immer leicht waren. Vielleicht stand sie deshalb oft für Schwächere ein und konnte Ungerechti­gkeiten nicht hinnehmen.Vielleicht waren es auch die christlich­en Werte, die ihren Charakter mitformten. Auf der erzbischöf­lichen Liebfrauen­schule ist sie jedenfalls ein Lehrerlieb­ling – im besten Sinne. Mit einem Abi-Notenschni­tt von 1,3 steht ihr die Welt offen. „Sie wollte immer Tiermedizi­n studieren“, sagt Ursula Wagner.

Ein Praktikum im Bundeswehr­krankenhau­s in Koblenz ändert alles. Dort wird sie ins kalte Wasser geworfen und sofort mit Schwerverl­etzten konfrontie­rt. Von da an möchte sie Ärztin werden. „Aber bloß nicht in Bonn, sie wollte raus“, sagt Ursula Wagner. So wird Halle an der Saale Anfang der 2000er-Jahre ihre neue Heimat. Es ist der Beginn einer langen Reise, bei der sie oft umzieht. Sie studiert erst Medizin. Mit guten Noten, aber nicht erfüllend. Sie probiert es mit Jura und zieht zeitweise nach Hamburg. Letztlich versucht sie es mit Mathe. Zahlen waren immer ihre Leidenscha­ft.

Da ist sie schon mit ihrem Freund Karl Stenerud zusammen. Der Kanadier zieht für sie nach Deutschlan­d. „Als Softwareen­twickler kann ich überall arbeiten“, erzählt er über die Zeit damals. Die beiden lernen sich 2016 über das Onlinespie­l „Left4Dead“kennen, bei dem Zombies getötet werden müssen. „Da ist es wichtig, Leute in deinem Team zu haben, die gut sind.“Und Savita ist verdammt gut. Sie verbringen Stunden mit Spielen, Chatten, Videoanruf­en. Der„Weirdo“, so ist ihr Spitzname im Netz, hat es ihm angetan. Sie ist verrückt und schräg – im besten Sinne. Als Stenerud auf der Reise nach Norwegen durch Deutschlan­d fährt, treffen sich die beiden in Köln. „Es war total chaotisch, nichts funktionie­rte. Ihre Züge fielen aus, ihr Handy ging kaputt. Ich dachte, sie kommt nicht mehr. Und dann stand sie doch da.“Wenn Savita sich etwas in den Kopf gesetzt hat, hält sie nichts auf. Die Gamer werden ein Paar, heiraten 2018 in Kanada und kehren wieder nach Deutschlan­d zurück. „Sie, die Mathematik­erin, ich, der Softwareen­twickler. Wir hätten eine Firma für künstliche Intelligen­z gründen können“, sagt Stenerud. Doch im Februar 2022 überfällt Putin die Ukraine.

Was bringt einen jungen Menschen dazu, in den Krieg zu ziehen? In ein Land, das sie nur aus den Nachrichte­n kennt?„Savita war nie ein politische­r Mensch und auch kein Kriegstyp. Es war eine spontane Entscheidu­ng, in die Ukraine zu gehen“, sagt Ursula Wagner. Sie ist zu diesem Zeitpunkt, genauso wie Karl Stenerud, nicht davon angetan. Sie haben Angst. Savita weiß das und spielt die Gefahr herunter, ist aber auch kompromiss­los. „Hätte ich ihr das verbieten sollen? Sie wollte zuerst auch nicht an die Front gehen“, erzählt Stenerud. Stattdesse­n leistet sie humanitäre Hilfe. Ab März 2022 fährt sie dringend benötigte Medikament­e und medizinisc­he Güter von Lwiw (Lemberg) nach Kiew und Geflüchtet­e aus den Kriegsgebi­eten zurück. Das ist das, was Savita bis zuletzt ihrer Mutter erzählt. Sie hält regelmäßig Kontakt zu ihr, sofern die russischen Störmanöve­r das zulassen. Sie schickt Videos, in denen sie durch eine Arztpraxis führt und zeigt, womit sie dort arbeitet.

Ursula Wagner besucht sie auch in Kiew. Karl Stenerud fährt ebenfalls in die Ukraine und bringt ihr einen alten Geländewag­en, den er in Polen kauft. Er unterstütz­t sie, wo es nur geht. Ihm vertraut sie ihre Pläne an. Berichtet, welche Gräuel sie sieht. Savita ist als eine der Ersten in Butscha, das die Ukrainer von den russischen Besatzern befreien. Sie sieht die Leichen der erschossen­en, gefolterte­n und erschlagen­en Zivilisten, der Opfer des Massakers. „Sie erzählte, dass die Russen Minen auf Spielplätz­en versteckt hatten“, sagt Stenerud. Savita führt anschließe­nd ausländisc­he Journalist­en durch das Gebiet. Die Bilder davon gehen um die Welt. Und für sie wird klar, dass es nicht reicht, in der zweiten Reihe zu stehen. Sie ist wütend. „Zum Teufel damit, die Symptome zu behandeln, lasst uns die Ursache beseitigen“, soll sie damals gesagt haben. Ihre Großeltern mussten vor den Russen im Zweiten Weltkrieg flüchten, von denVerbrec­hen an den Zivilisten erzählten sie auch ihr. „Das, was hier passiert, ist noch schlimmer“, zitiert Ursula Wagner ihre Tochter.

Savita spricht kein Ukrainisch, hat aber Erfahrung aus dem Medizinstu­dium. Das reicht für die Front, an der verlustrei­che Kämpfe toben und Sanitäter dringend gebraucht werden. Einer der Freunde, den sie in der Ukraine kennengele­rnt hat, bildet solche Sanitäter aus und vermittelt den Kontakt zum Militär. Nach zwei Monaten Grundausbi­ldung geht sie im Juni 2022 an die Nordost-Front. Dort liegt sie erst in Schützengr­äben bei Isjum, bevor ihre Vorgesetzt­en in den Wirren des Krieges erfahren, dass sie eigentlich Sanitäteri­n ist.

Kein fließendes Wasser, keine Toilette, zu wenig Munition, der Stützpunkt in Reichweite russischer Artillerie. Aber Savita und ihre Kameraden weichen nicht. Ihr Bataillon „Karpatska Sitsch“ist eine Freiwillig­eneinheit, wird aber später in die reguläre Armee eingebunde­n. Es gibt viele andere Ausländer, meist wird Englisch gesprochen. Sie macht sich einen Namen. „Snake“wird sie genannt, weil sie als Sanitäteri­n den Äskulapsta­b auf dem Arm trägt.

„Sie war ein Sommer-, Sonnen-, Sonntagski­nd“Ursula Wagner Mutter

„Was sie erlebt hat, hat sie nicht kalt gelassen“Karl Stenerud Ehemann

Auf den Fotos und in den Videos, die Savita ihrem Mann schickt, ist ihr die Erschöpfun­g anzusehen. Ihre blonden Haare sind kraus und ungewasche­n, ihre hellen Wangen sind voller Dreck. Ihr Gesicht sieht schmal aus. Ihr Blick ist leer. „Was sie erlebt hat, hat sie nicht kalt gelassen“, sagt Stenerud. In den Reihen ihrer Kameraden findet sie Freunde fürs Leben. Doch ihre Freunde sterben. Das zermürbt sie. „Wir haben darüber gesprochen, dass sie dort raus muss. Aber sie wollte endlich etwas zu Ende bringen. Drei Jahre wollte sie in der Ukraine bleiben und keinen Tag länger.“

Es ist der 31. Januar, als Savita durch Artillerie-Beschuss nahe Swatowe in der Ostukraine getötet wird. Sie versucht, wie so oft, verwundete Soldaten in Sicherheit zu bringen. Ihre Kameraden erzählen, dass sie DutzendeVe­rletzte gerettet hat. Am 14. Februar, Valentinst­ag, wird sie in Kiew mit militärisc­hen Ehren beigesetzt. Nicht irgendwo, sondern in der„Allee des Ruhmes“am Soldatenfr­iedhof. „Wir kommen in diese Welt mit leeren Händen, und wir verlassen dieseWelt auch wieder mit leeren Händen. Doch die goldenen Hände von Savita Wagner haben sehr viel für uns und unser ganzes Land getan“, sagt der Militärpfa­rrer in der Predigt.

UrsulaWagn­er und Karl Stenerud sind dabei. Sie bekommen Savitas Orden und eine blaue Samtschatu­lle überreicht, in der säuberlich gefaltet eine deutsche und eine ukrainisch­e Flagge liegen. Sie ist „Snake“, die Heldin – wie es seit Monaten auf ihrem olivgrünen Geländewag­en steht. Dass Savita in der Ukraine beerdigt wird, da sind sich beide einig. Auch jetzt noch, wo sie sich am Wohnzimmer­tisch in Bonn gegenübers­itzen. Gerade sind die letzten Kirschblüt­en von den Bäumen in der Altstadt gefallen, die von der Wohnung aus zu sehen sind. „Sie hat sich für ihre Kameraden eingesetzt. Dafür hat sie ihr Leben gelassen“, sagt Ursula Wagner.

Karl Stenerud und Savita wollten nach dem Krieg abwechseln­d in Deutschlan­d und in der Ukraine leben. Sie waren sich sicher, dass Russland scheitern würde. Stattdesse­n planen nun Savitas Mutter und er, einmal im Jahr ihr Grab zu besuchen. Und mit ihren Mitteln dafür zu kämpfen, dass die Ukraine ein freies Land bleibt. „Sie kämpfte für die Freiheit Europas, nicht nur für die der Ukraine. Dafür ist sie gestorben. Wenn Putin nicht gestoppt wird, wird er immer weiter machen, und andere könnten ihm folgen. Das ist eine Gefahr für unser gesamtes Weltgefüge“, sagt Karl Stenerud. Er will nun ein Buch schreiben.

Ursula Wagner hat einen Brief an hochrangig­e deutsche Politiker und Mitglieder der Bundesregi­erung verfasst, in dem sie Munitions- und Waffenlief­erungen an die Ukraine fordert – nur CDU-Chef Merz und der Vorsitzend­e des Auswärtige­n Ausschusse­s, Michael Roth (SPD), haben ihr geantworte­t. Sie schließt mit den Worten: „Putin ist ein Schlächter und Mörder, der keinen Frieden will, sondern eine Unterjochu­ng der Ukraine zum Ziel hat. Wäre Putin erfolgreic­h, würde dies die Unterwerfu­ng Europas bedeuten.“

Das war für Savita keine Option.

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FOTO: IMAGO Soldaten tragen das Bild von Savita Wagner bei ihrer Beerdigung, dahinter folgen die Männer mit ihrem Sarg.
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FOTOS (3): PRIVAT Ursula Wagner besuchte ihre Tochter in Kiew, wusste aber nicht, dass Savita an der Front kämpfte.
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Wen sie rettete, um den kümmerte sie sich auch später: Savita Wagner besuchte einen ukrainisch­en Soldaten am Krankenbet­t.
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Ihrem Mann Karl Stenerud vertraute Savita Wagner alles an. Er kaufte ihr einen Jeep und brachte ihn in die Ukraine.

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