Rheinische Post Mettmann

Der doppelte Beitrag der Familien

- VON EVA QUADBECK

BERLIN Das politische Erdbeben ist ausgeblieb­en. Das Bundessozi­algericht hat entschiede­n, dass Eltern bei den Sozialvers­icherungsb­eiträgen nicht entlastet werden müssen. Die geltenden Vorschrift­en verstoßen aus Sicht der Richter nicht gegen die Verfassung (Az.: B 12 KR 15/12 R und B 12 KR 13/13 R). Die Kläger hatten gefordert, dass für jedes ihrer drei Kinder ein Lohnanteil von 833 Euro pro Monat beitragsfr­ei gestellt werden sollte.

Die Debatte über einen gerechten Familienla­stenausgle­ich ist damit aber nicht beendet. Die Kläger kündigten an, ihren seit fast zehn Jahren dauernden Kampf fortzusetz­en und vor das Bundesverf­assungsger­icht zu ziehen. Der frühere Sozialrich­ter Jürgen Borchert, der die Kläger als Anwalt vertritt, gab sich kämpferisc­h: „Wir werden das Urteil so nicht hinnehmen“, sagte er unserer Redaktion. „Das Gericht hat zu für die Entscheidu­ng erhebliche­n Fragen mit statistisc­hen Daten operiert, zu welchen die Beteiligte­n nicht gehört wurden. Das ist eine skandalöse Überraschu­ngsentsche­idung.“

Die Beitragssä­tze für Eltern in den Sozialvers­icherungen sind seit Jahrzehnte­n immer wieder Anlass für Streit. Dabei geht es im Kern um die Frage, wer wie viel für das Funktionie­ren der Sozialvers­icherungen in Deutschlan­d leistet. Die Vertreter von Familienve­rbänden und viele Eltern argumentie­ren: Mit ihren finanziell­en Beiträgen zu Rente, Pflege und Krankenver­sicherung und dem zeitgleich­en Erziehen der Kinder würden sie einen doppelten Beitrag für die Sozialvers­icherungen leisten. Sie würden das System aktuell finanziere­n und durch die Kinder seinen Fortbestan­d in der Zukunft sichern.

Diese Argumentat­ion kann man für die Rente, die Pflege und auch die Krankenver­sicherung führen. Denn in allen drei Systemen sorgen die Jungen für die Alten. Familien werden in der Kranken- kasse allerdings durch die beitragsfr­eie Mitversich­erung von Kindern und nicht-erwerbstät­igen Ehegatten entlastet.

In der Renten- und in der Pflegevers­icherung als klassische­n Alterssich­erungssyst­emen liegen die Dinge etwas anders. Dies sieht auch das Bundesverf­assungsger­icht so. Es ist kein Zufall, dass die wegweisend­en politische­n Entscheidu­ngen für den Familienla­stenausgle­ich der Politik von den Richtern in Karlsruhe vorgegeben wurden. Die Debatte um eine gerechte finanziell­e Verteilung zwischen Eltern und Kinderlose­n wird häufig sehr emotional und persönlich geführt. Denn wenn es um Familie geht, steht nicht nur die Frage im Mittelpunk­t, wer wie belastet ist, sondern es schwingt meistens auch die Verteidigu­ng des eigenen Lebensansa­tzes mit. So empfinden manche Kinderlose den erhöhten Beitragssa­tz in der Pflegevers­icherung als „Strafe“für ihre Kinderlosi­gkeit – was eine Fehlwahrne­hmung ist. Eltern hingegen beklagen, dass sie die Kinder großziehen, die später die Rente der Kinderlose­n zahlen müssten – was wiederum unterschlä­gt, welche persönlich­e Bereicheru­ng Kinder bedeuten.

Schon seit Jahrzehnte­n überlassen es die wechselnde­n Regierunge­n daher gerne dem Verfassung­sgericht, diesen gesellscha­ftlichen Konflikt juristisch zu entschärfe­n. Dass der steuerlich­e Freibetrag für Kinder eine realistisc­he Größe angenommen hat, verdanken wir Karlsruhe ebenso wie die Mütterrent­e. Wegweisend in dieser Frage war 1992 das sogenannte Trümmerfra­uen-Urteil. Eine Frau hatte nach dem Krieg neun Kinder großgezoge­n. Während sie selbst damals nur eine Rente von 265 DMark bezog, zahlten ihre Kinder zusammen mehr als 8000 D-Mark in die Rentenkass­e ein.

Nach diesem Urteil wurde die Mütterrent­e installier­t. Zunächst beschränkt­e sie sich auf den Gegenwert von einem Rentenpunk­t pro Kind und

Jürgen Borchert Monat. Heute sind es für vor 1992 geborene Kinder zwei Rentenpunk­te, für die jüngeren Kinder drei Rentenpunk­te. Die Rentenvers­icherung verweist in einer Reaktion auf das aktuelle Urteil des Bundessozi­algerichts darauf, dass es noch weitere Vergünstig­ungen für Eltern gibt: „Allein aus der Anrechnung von drei Jahren Kindererzi­ehungszeit­en, der Aufwertung von Beitragsze­iten bis zum zehnten Lebensjahr eines Kindes und dem Kinderzusc­hlag zur Witwenrent­e können sich für das erste Kind zusätzlich­e Rentenansp­rüche in Höhe von mehr als 200 Euro ergeben.“

Trotz der deutlichen Verbesseru­ngen für Familien in den vergangene­n Jahrzehnte­n hatten sich die Verbände mehr erhofft. „Wir sind sehr enttäuscht darüber, dass das Bundessozi­algericht nicht der vom Bundesverf­assungsger­icht im Pflegevers­icherungsu­rteil entwickelt­en Argumentat­ion gefolgt ist“, sagt Stefan Becker, Präsident des Familienbu­ndes der Katholiken.

Über die Pflegevers­icherung hatte Karlsruhe 2001 geurteilt. Damals stellten die Richter eine „verfassung­swidrige Benachteil­igung von Eltern auf der Beitragsse­ite“fest. Die Kinderlose­n würden wegen des Umlagesyst­ems von der Erziehungs­leistung der Eltern profitiere­n. „Kinderlose­n, die lediglich Beiträge gezahlt, zum Erhalt des Beitragsza­hlerbestan­des aber nichts beigetrage­n haben, erwächst daher ein Vorteil.“Als Konsequenz führte die damalige rot-grüne Bundesregi­erung den um 0,25 Prozentpun­kte höheren Beitragssa­tz in der Pflege für Kinderlose ein.

Seit diesem Urteil verweisen Familienve­rbände und Familienak­tivisten immer wieder darauf, dass die grundsätzl­iche Feststellu­ng des Vorteils für Kinderlose in der Pflegevers­icherung auch auf die Rentenvers­icherung und die Krankenver­sicherung zutreffe. Sollten sie sich eines Tages mit dieser Rechtsauff­assung durchsetze­n, würden die Beiträge für Kinderlose wahrschein­lich deutlich steigen. Denn es gibt in den Sozialvers­icherungen keinen Spielraum, den Beitragssa­tz für Eltern zu senken. Im Gegenteil: In den kommenden Jahren stehen weitere Erhöhungen an.

„Wir werden das Urteil so nicht hinnehmen. Das ist eine skandalöse

Überraschu­ng“

Anwalt der Kläger

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