Erfolgreich gescheitert
Der Skispringer Thomas Morgenstern hat ein Jahr nach seinem Rücktritt ein Buch über sein Sportlerleben geschrieben.
DÜSSELDORF Beinahe hätte Thomas Morgenstern den Sprung, der die Gewissheit bringt, nicht gemacht. Die vier Sprünge sind genug, hat sein Trainer gesagt. Doch Morgenstern will noch einmal runterspringen. Der Trainer gibt nach. Minuten später sitzt Morgenstern mit Tränen in den Augen im Auslauf der Bergisel-Schanze in Innsbruck. Er weiß, dass er gescheitert ist. Wenige Tage später, am 26. September 2014, verkündet er seinen Rücktritt. Mit 27 Jahren.
Es ist keine Phrase, sondern die Wahrheit, dass der österreichische Skispringer Thomas Morgenstern, dessen Buch „Über meinen Schatten“soeben erschienen ist, in seinem Sport alles gewonnen hat, was es zu gewinnen gibt. Olympia, Weltmeisterschaft, Gesamtweltcup und Vierschanzentournee. Zwölf Jahre sprang Morgenstern im Weltcup, und nur dreimal landete er in der Endabrechnung nicht unter den ersten zehn.
Schon früh stellte er für den Skisprung alles hintenan. Als Kind wird ihm das Skifahren schnell zu langweilig, also baut er mit seinen Freunden neben der Piste Schanzen und saust los. Mit neun Jahren macht er seinen ersten Sprung auf einer richtigen Schanze. Mit 16 debütiert er im Weltcup.
Im Winter 2013/2014 kommt der Knick. Am 14. Dezember holt er noch in Titisee-Neustadt seinen 23. Weltcupsieg, den ersten seit fast zwei Jahren. Er weiß nicht, dass es sein letzter sein wird. Er hat eine Krise hinter sich. Hat sich von seiner Freundin getrennt, obwohl sie gerade ein Kind bekommen hat, und gleich eine neue Frau an seiner Seite. Das kommt im österreichischen Boulevard nicht gut an. Einen Tag nach seinem Sieg in Titisee stürzt er. Finger gebrochen, Abschürfungen, Prellungen, Blutergüsse. Es hält ihn nicht davon ab, zwei Wochen später bei der Vierschanzentournee zu starten und Zweiter zu werden. Doch dann verändert ein Sprung sein ganzes Leben.
10. Januar 2014. Skiflug-Weltcup in Bad Mitterndorf. Skifliegen ist noch einmal eine ganz andere Hausnummer als Skispringen. Die Flüge gehen über 200 Meter. Das macht auch einen Sturz gefährlicher. Morgenstern ist gerade ein paar Meter unterwegs, als er nach links kippt und in den Schnee knallt. Er ist kurz bewusstlos und kommt ins Krankenhaus. An den Sturz kann er sich nicht erinnern. Kopf und Lunge sind verletzt, aber er hat Glück gehabt. Und nur ein Ziel: Olympia. Tatsächlich startet er vier Wochen später in Sotschi und holt Silber mit der Mannschaft. Danach beendet er die Saison vorzeitig.
Plötzlich hat er Zeit. Und es beginnt in ihm zu arbeiten. Denn da ist sie wieder, diese eine Frage. Noch im Krankenhaus hat er mit seinem Trainer die Ursachen des Sturzes analysiert. Bis er die Erleuchtung hat: Weil er seine Skier zum V kreuzt, überschneiden sie sich hinten. Normalerweise liegt bei ihm das linke Skiende über dem rechten. Vor einigen Monaten hatte einmal das rechte über dem linken Skiende gelegen, einen Sturz konnte er gera- de noch verhindern. Auch in Bad Mitterndorf passiert ihm das. Die große Frage ist: „Lege ich bei meinem Sport mein Leben in die Hände des Zufalls?“Doch Morgenstern will wieder springen. Im Juli 2014 steht der erste Sprung vor Sotschi an. Er geht in die Kabine, steigt in den Anzug. Alles gut. Doch als er die Schuhe anzieht, beginnt er sich unwohl zu fühlen. Auf der Schanze stellt er fest: „Und plötzlich war die ganze Freude wie weggeblasen. Es blieb nur noch Überwindung.“
Er macht in diesem Sommer viele Sprünge, aber keinen unbeschwerten. Jedes Training ist wahnsinnig anstrengend. „Es war schwer, sich bei jedem Sprung zu überwinden, sich der Angst zu stellen, zu hoffen, dass es in erster Linie gutgeht. Soll ich weitermachen? Soll ich nicht weitermachen?“
Dann kommt das Sommertraining in Innsbruck. Bei seinem fünften Sprung wird es windig. Plötzlich kommen ihm in der Luft die Skier entgegen. Er kann einen Sturz noch soeben verhindern. Im Auslauf schließt er mit seiner Karriere ab. „Ich war dieser Aufgabe nicht mehr gewachsen“, sagt er. Zwar scheitert er bei dem Versuch, in den Profisport zurückzukehren, doch eine Niederlage ist es für ihn nicht. Weil er feststellt, dass es ein Leben danach gibt. „I derf mi verändern“, sagt er in seinem Dialekt.
Diese Veränderung beginnt ein paar Stunden nach den Sprüngen in Innsbruck. Noch einmal sitzt er auf einer Schanze, in Stams. Die Anlage ist kleiner, sie liegt ihm. Noch ein paar Sprünge. Die Entscheidung ist gefallen, doch bis auf seinen Manager weiß noch niemand davon. Er bittet die Betreuer, die Kamera einzuschalten. In dem Video wird später zu sehen sein, wie ein junger Mann in sein neues Leben springt. Das Buch „Über meinen Schatten“, 192 Seiten, Ecowin, 19,95 Euro