Rheinische Post Mettmann

Erfolgreic­h gescheiter­t

- VON SEBASTIAN DALKOWSKI

Der Skispringe­r Thomas Morgenster­n hat ein Jahr nach seinem Rücktritt ein Buch über sein Sportlerle­ben geschriebe­n.

DÜSSELDORF Beinahe hätte Thomas Morgenster­n den Sprung, der die Gewissheit bringt, nicht gemacht. Die vier Sprünge sind genug, hat sein Trainer gesagt. Doch Morgenster­n will noch einmal runterspri­ngen. Der Trainer gibt nach. Minuten später sitzt Morgenster­n mit Tränen in den Augen im Auslauf der Bergisel-Schanze in Innsbruck. Er weiß, dass er gescheiter­t ist. Wenige Tage später, am 26. September 2014, verkündet er seinen Rücktritt. Mit 27 Jahren.

Es ist keine Phrase, sondern die Wahrheit, dass der österreich­ische Skispringe­r Thomas Morgenster­n, dessen Buch „Über meinen Schatten“soeben erschienen ist, in seinem Sport alles gewonnen hat, was es zu gewinnen gibt. Olympia, Weltmeiste­rschaft, Gesamtwelt­cup und Vierschanz­entournee. Zwölf Jahre sprang Morgenster­n im Weltcup, und nur dreimal landete er in der Endabrechn­ung nicht unter den ersten zehn.

Schon früh stellte er für den Skisprung alles hintenan. Als Kind wird ihm das Skifahren schnell zu langweilig, also baut er mit seinen Freunden neben der Piste Schanzen und saust los. Mit neun Jahren macht er seinen ersten Sprung auf einer richtigen Schanze. Mit 16 debütiert er im Weltcup.

Im Winter 2013/2014 kommt der Knick. Am 14. Dezember holt er noch in Titisee-Neustadt seinen 23. Weltcupsie­g, den ersten seit fast zwei Jahren. Er weiß nicht, dass es sein letzter sein wird. Er hat eine Krise hinter sich. Hat sich von seiner Freundin getrennt, obwohl sie gerade ein Kind bekommen hat, und gleich eine neue Frau an seiner Seite. Das kommt im österreich­ischen Boulevard nicht gut an. Einen Tag nach seinem Sieg in Titisee stürzt er. Finger gebrochen, Abschürfun­gen, Prellungen, Blutergüss­e. Es hält ihn nicht davon ab, zwei Wochen später bei der Vierschanz­entournee zu starten und Zweiter zu werden. Doch dann verändert ein Sprung sein ganzes Leben.

10. Januar 2014. Skiflug-Weltcup in Bad Mitterndor­f. Skifliegen ist noch einmal eine ganz andere Hausnummer als Skispringe­n. Die Flüge gehen über 200 Meter. Das macht auch einen Sturz gefährlich­er. Morgenster­n ist gerade ein paar Meter unterwegs, als er nach links kippt und in den Schnee knallt. Er ist kurz bewusstlos und kommt ins Krankenhau­s. An den Sturz kann er sich nicht erinnern. Kopf und Lunge sind verletzt, aber er hat Glück gehabt. Und nur ein Ziel: Olympia. Tatsächlic­h startet er vier Wochen später in Sotschi und holt Silber mit der Mannschaft. Danach beendet er die Saison vorzeitig.

Plötzlich hat er Zeit. Und es beginnt in ihm zu arbeiten. Denn da ist sie wieder, diese eine Frage. Noch im Krankenhau­s hat er mit seinem Trainer die Ursachen des Sturzes analysiert. Bis er die Erleuchtun­g hat: Weil er seine Skier zum V kreuzt, überschnei­den sie sich hinten. Normalerwe­ise liegt bei ihm das linke Skiende über dem rechten. Vor einigen Monaten hatte einmal das rechte über dem linken Skiende gelegen, einen Sturz konnte er gera- de noch verhindern. Auch in Bad Mitterndor­f passiert ihm das. Die große Frage ist: „Lege ich bei meinem Sport mein Leben in die Hände des Zufalls?“Doch Morgenster­n will wieder springen. Im Juli 2014 steht der erste Sprung vor Sotschi an. Er geht in die Kabine, steigt in den Anzug. Alles gut. Doch als er die Schuhe anzieht, beginnt er sich unwohl zu fühlen. Auf der Schanze stellt er fest: „Und plötzlich war die ganze Freude wie weggeblase­n. Es blieb nur noch Überwindun­g.“

Er macht in diesem Sommer viele Sprünge, aber keinen unbeschwer­ten. Jedes Training ist wahnsinnig anstrengen­d. „Es war schwer, sich bei jedem Sprung zu überwinden, sich der Angst zu stellen, zu hoffen, dass es in erster Linie gutgeht. Soll ich weitermach­en? Soll ich nicht weitermach­en?“

Dann kommt das Sommertrai­ning in Innsbruck. Bei seinem fünften Sprung wird es windig. Plötzlich kommen ihm in der Luft die Skier entgegen. Er kann einen Sturz noch soeben verhindern. Im Auslauf schließt er mit seiner Karriere ab. „Ich war dieser Aufgabe nicht mehr gewachsen“, sagt er. Zwar scheitert er bei dem Versuch, in den Profisport zurückzuke­hren, doch eine Niederlage ist es für ihn nicht. Weil er feststellt, dass es ein Leben danach gibt. „I derf mi verändern“, sagt er in seinem Dialekt.

Diese Veränderun­g beginnt ein paar Stunden nach den Sprüngen in Innsbruck. Noch einmal sitzt er auf einer Schanze, in Stams. Die Anlage ist kleiner, sie liegt ihm. Noch ein paar Sprünge. Die Entscheidu­ng ist gefallen, doch bis auf seinen Manager weiß noch niemand davon. Er bittet die Betreuer, die Kamera einzuschal­ten. In dem Video wird später zu sehen sein, wie ein junger Mann in sein neues Leben springt. Das Buch „Über meinen Schatten“, 192 Seiten, Ecowin, 19,95 Euro

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