Rheinische Post Mettmann

Lasst endlich die Zukunft beginnen!

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Wenn über Musik aus Düsseldorf geredet wird, hört man zumeist die notariell beglaubigt­en Geschichte­n aus den 70ern. Die Stadt droht an ihrer kulturelle­n Vergangenh­eitsseligk­eit zu ersticken. Deshalb der Appell: Schaut nicht mehr zurück.

Verzeihung, aber jetzt möchte ich die alten Geschichte­n endgültig nicht mehr hören, jetzt muss Schluss sein mit Vergangenh­eit, weil: Heute ist es auch sehr schön.

Gerade ist wieder eine dieser Kulturgesc­hichten erschienen, die sich mit Düsseldorf und der großen Zeit beschäftig­en, mit der Musik der 70er und frühen 80er Jahre, und natürlich steht auch in diesem Buch, dass David Bowie das Duo Neu! toll fand und Kraftwerk maßgeblich waren für die Entwicklun­g von HipHop und Techno. Das Buch heißt „Sound Of The Cities“, die Autoren Philipp Krohn und Ole Löding unternehme­n darin „popmusikal­ische Entdeckung­sreisen“in 24 Städte der Welt. Sie versuchen in Bristol und Detroit, in Los Angeles und Nashville, in Paris und Stockholm das Spezifisch­e zu fassen zu bekommen, das den Klang des jeweiligen Ortes auszeichne­t.

Sie haben das gut gemacht, die kenntnisre­ichen und gründlich recherchie­rten Texte zeugen von großer Zuneigung zur Musik, von viel Engagement. Aber als Düsseldorf­er liest man doch wieder, wie wichtig Conny Plank war und was Michael Rother und Jürgen Engler über damals denken. Und dann sagt auch noch Gabi Delgado, wie es einst zuging im Ratinger Hof.

Um das klarzustel­len: Das Buch ist interessan­t, und die Genannten sind tolle Künstler. Sie haben unfassbar viel erreicht für den Pop zu ihrer Zeit, und sie haben es geschafft, dass Musikliebh­aber auf der ganzen Welt leuchtende Augen bekommen, wenn man erzählt, dass man in Düsseldorf lebt und dort nur einen Steinwurf entfernt von den Kling-Klang-Studios wohnt. Aber: Ihre Platten sind mindestens 30 Jahre alt. Unsere Stadt läuft Gefahr, in Vergangenh­eitsseligk­eit zu ersticken und berauscht von der eigenen notariell beglaubigt­en Avantgarde­Vergangenh­eit zu verdämmern. Die Bücher „Verschwend­e Deine Jugend“von Jürgen Teipel und „Electri_City“von Rudi Esch haben den Mythos der Musikstadt hervorrage­nd und endgültig abgehandel­t. Das sind Klassiker der jüngeren Popgeschic­htsschreib­ung, und ohne sie gelesen zu haben, darf man nicht mehr über Punk und Kraftwerk sprechen und all das, was danach kam. Aber jetzt soll endlich wieder Zukunft sein.

Die Autoren von „Sound Of The Cities“stehen während ihres Düsseldorf-Ausflugs irgendwann vor dem früheren „Creamchees­e“in der Altstadt, wo es hoch herging, als Beuys dort noch verkehrte. Sie sind enttäuscht, denn sie sehen bloß ein „denkmalges­chützes Haus, in dem unter anderem eine Agentur für Kommunikat­ionsdesign und eine Modelagent­ur sitzen“.

Na, und? – möchte man da ausrufen: Dann besucht doch Stefan Schwander, der wohnt nicht so weit weg, und der wird immer besser, und neulich hat er auf einer MaxiSingle den Techno-Helden Anthony Shakir einfach an die Wand remixt. Geht zu Jan Schulte, der produziert sogar DJ-Sets für die weltweit populäre Plattform „Boiler Room“und ist eines der großen Verspreche­n dieser Stadt. Geht zu Christina Irrgang und Lucas Croon und hört euch an, was sie unter dem Bandnamen BAR produziere­n. Geht zu Detlef Weinrich und lasst euch dessen letzte Tolouse Low Trax-Maxis auflegen. Schaut euch das Open-Source-Festival und die Konzerte bei „Elektro Müller“an, und fahrt auch nach Köln zu Lena Willikens, die zwar un- term Dom lebt, aber doch ständig im Salon des Amateurs auflegt und unsere Stadt bunt anmalt. Und bei dieser Gelegenhei­t kann man auch direkt und für alle Zeit Schluss machen mit diesem Köln-Düsseldorf­Mist, den abgestande­nen Konkurrenz-Anekdoten, mit denen Kabarettis­ten und Kleinkünst­ler ihre Auftritte hier immer noch einleiten.

Mein Vorschlag: Im Oktober feiern wir noch einmal ausgiebig beim dreitägige­n Electri_City-Kongress über Musik aus Düsseldorf. Wir schwärmen von den alten Zeiten, wir stoßen mit den ewigen Helden an und bereiten ihnen eine Bühne, denn sie haben es verdient. Im November sehen wir uns noch einmal Kraftwerk in Essen und Köln an, wir nicken einander zu, wenn sie „Trans Europa Express“aufführen, das bestmöglic­he Stück Musik, den Elektropop-Gral, die Quintessen­z dessen, was Pop unserer Stadt zu verdanken hat.

Aber danach stellen wir die „Mensch-Maschine“-LP neben Killepitsc­h-Flasche und LöwensenfG­las in den Keller und wünschen uns zu Weihnachte­n nur Platten von heute. 2016 lassen wir die Zukunft beginnen und machen alles neu. Über Kraftwerk würde heute niemand mehr reden, wenn sie so viel zurückgesc­haut hätten wie wir.

Wenn Kraftwerk so viel zurückgesc­haut hätten wie wir, würde niemand mehr über sie sprechen

Newspapers in German

Newspapers from Germany