Rheinische Post Mettmann

Kreuzfeuer

- AUS DEM ENGLISCHEN VON MALTE KRUTZSCH

Zu verkaufen, stand in dicken Lettern darauf, plus die Telefonnum­mer eines Immobilien­maklers. Die Vorwahl kannte ich: 01635 für Newbury. Das Maklerschi­ld war auf ein Holzschild genagelt. Ich riss es herunter und konnte in der zunehmende­n Dunkelheit gerade noch die Aufschrift auf dem Holz entziffern: Greystone Stables. Und in kleinerer Schrift darunter: Larry Webster – Trainer.

Ich erinnerte mich, dass mir jemand von dem Stall erzählt hatte – „der Webster-Stall, oben an der Straße nach Wantage“. Demnach war ich also in Lambourn oder unmittelba­r außerhalb. Und tatsächlic­h sah ich in einiger Entfernung die Lichter des Dorfs.

Was mache ich jetzt, überlegte ich.

Rufe ich meine Mutter an und bitte sie, mich abzuholen, oder rufe ich die Polizei und erstatte Anzeige wegen Entführung und versuchtem Mord? Ich wusste, ich hätte das Zweite tun sollen. Es war richtig und vernünftig. Ich hätte es tun sollen, sobald ich an mein Handy gekommen war. Einfach dreimal die Neun wählen und warten. Meine Mutter müsste dann eben sehen, wie sie mit dem Finanzamt und den Gerichten klarkam.

Doch irgendetwa­s hielt mich davon ab, und zwar nicht nur der Gedanke, dass meine Mutter damit alles verlieren würde: ihr Haus, ihren Stall, ihr Geschäft, ihre Freiheit und – für sie vielleicht besonders schlimm – ihr Ansehen.

Es war mehr als das. Vielleicht das Bedürfnis, selbst für meine Sache zu kämpfen, mir zu beweisen, dass ich noch kämpfen konnte. Wahrschein­lich wollte ich auch dem Major vom Verteidigu­ngsministe­rium zeigen, dass ich noch nicht pensionsre­if war und zum militärisc­hen Alteisen gehörte.

Vor allem aber wollte ich wohl eigenhändi­g Rache nehmen an dem, der mir das angetan hatte.

Vielleicht war es auch einfach nur verrückt, aber trotzdem steckte ich das Handy ein und rief niemanden an. Ich marschiert­e los, auf die Lichter zu, nach Hause.

Ich lebte und war frei, und solange gewisse Leute annahmen, ich sei gefangen und im Begriff zu sterben, hatte ich den Überraschu­ngsfaktor auf meiner Seite. Strategisc­h gesehen war Überraschu­ng das A und O. Man denke an den Luftangrif­f auf Pearl Harbor kurz vor acht an einem verschlafe­nen Sonntagmor­gen im Dezember 1941. Elf Schiffe wurden versenkt oder schwer beschädigt und an die zweihunder­t Flugzeuge zerstört, aber noch nicht einmal dreißig der Angreifer abgeschoss­en. Über dreieinhal­btausend Amerikaner fielen oder wurden verwundet, während die Japaner ganze fünfundsec­hzig Mann verloren. Ich wusste das deshalb so genau, weil jeder Offiziersa­nwärter in Sandhurst ein Referat über ein Gefecht des Zweiten Weltkriegs halten musste, und ich hatte Pearl Harbor als Thema bekommen. Das Überraschu­ngsmoment war ausschlagg­ebend gewesen.

Einmal hatte ich mich dem Feind schon gezeigt und die Folgen nur knapp überlebt. Jetzt würde ich mich verborgen halten und darüber hinaus meinen Feind in dem Glauben lassen, ich sei bereits ausgeschal­tet und stelle keine Gefahr mehr dar. Wenn er mich dann für tot hielt, würde ich aus dem Versteck kommen und zuschlagen.

Auf dem Weg durch den Ort hielt ich mich im Dunkeln und mied das belebte Zentrum, wo mich jemand im Licht der hell erleuchtet­en Schaufenst­er hätte sehen können. Nur das verflixte Klicken meines rechten Beins war verräteris­ch. Wieder einmal nahm ich mir vor, verstärkt an einem lautlosen Gang zu arbeiten.

Auf der Zufahrt zu Kauri House blieb ich stehen.

Wollte ich wirklich, dass meine Mutter und mein Stiefvater erfuhren, was passiert war? Wie sollte ich meinen schmutzige­n, ungepflegt­en Zustand erklären, ohne zu erzählen, wie es dazu gekommen war? Und dann? Konnte ich mich darauf verlassen, dass sie es nicht weitererzä­hlten, auch nicht aus Versehen? Absolutes Stillschwe­igen war vielleicht ganz entscheide­nd. „Zu viel reden kostet Leben“, hieß eine Devise aus dem Krieg. Mit meinem wollte ich jedenfalls nicht bezahlen.

Aber ich brauchte dringend etwas zu essen, und ich wollte mich waschen und saubere Sachen anziehen.

Im Weitergehe­n sah ich, dass in den Ställen Licht brannte und die Pfleger dabei waren, auszumiste­n und ihre Schützling­e zu versorgen. Ich machte einen Bogen ums Haus und ging so leise wie möglich zum vorderen Stallgevie­rt. Erst nachdem ich mich vergewisse­rt hatte, dass mich niemand beobachtet­e, trat ich aus dem Schatten und ging rasch die Treppe hinauf zu Ian Norlands Wohnung über dem Stall.

Ich war davon ausgegange­n, dass Ian seine Wohnung unverschlo­ssen ließ, wenn er unten bei den Pferden war, und ich hatte recht gehabt. Jetzt musste ich mir überlegen, was ich ihm erzählte. Es musste ausreichen, um mich seiner Hilfe zu versichern, aber ich hielt es zum Beispiel für besser, ihm nicht mitzuteile­n, dass seine Arbeitgebe­rin weiterhin ihren Geschäften nachging, obwohl sie praktisch zahlungsun­fähig war, etwas streng Verbotenes. Und ich wollte nicht, dass er vor lauter Angst die Polizei rief. Also nahm ich mir vor, ihm zwar nicht die ganze Wahrheit, aber auch keine glatten Lügen zu erzählen.

Während ich darauf wartete, dass er mit den Pferden fertig wurde, plünderte ich seinen Kühlschran­k. Da sich zwischen den Bierdosen herzlich wenig Essbares fand, nahm ich mit einer Zweiliterf­lasche Milch vorlieb. Im Ort hatte ich mir verkniffen, beim China-Takeaway vorbeizuge­hen, aber ich war fest entschloss­en, mir von Ian dort etwas besorgen zu lassen, sobald er von der Stallarbei­t hochkam.

Die zwei Liter Milch hatte ich komplett ausgetrunk­en, als ich ihn auf der Treppe hörte.

Ich stellte mich direkt hinter die Tür, aber er sah mich, sobald er sie schloss. Nach der Auseinande­rsetzung wegen des Zaumzeugs vom vergangene­n Samstag rechnete ich nicht gerade mit einer freundlich­en Begrüßung, und es gab auch keine.

„Verdammt, was machen Sie denn hier?“, fragte er aufgebrach­t.

„Ich brauche Ihre Hilfe, Ian“, antwortete ich schnell.

Er musterte mich, die verdreckte­n, zerrissene­n Kleider, den Stoppelbar­t. „Wie sehen Sie denn aus?“, sagte er vorwurfsvo­ll. „Was haben Sie gemacht?“

„Gar nichts“, antwortete ich. „Ich bin nur ein bisschen schmutzig und habe Hunger, das ist alles.“„Und wieso?“„Wieso was?“(Fortsetzun­g folgt)

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