Kreuzfeuer
Zu verkaufen, stand in dicken Lettern darauf, plus die Telefonnummer eines Immobilienmaklers. Die Vorwahl kannte ich: 01635 für Newbury. Das Maklerschild war auf ein Holzschild genagelt. Ich riss es herunter und konnte in der zunehmenden Dunkelheit gerade noch die Aufschrift auf dem Holz entziffern: Greystone Stables. Und in kleinerer Schrift darunter: Larry Webster – Trainer.
Ich erinnerte mich, dass mir jemand von dem Stall erzählt hatte – „der Webster-Stall, oben an der Straße nach Wantage“. Demnach war ich also in Lambourn oder unmittelbar außerhalb. Und tatsächlich sah ich in einiger Entfernung die Lichter des Dorfs.
Was mache ich jetzt, überlegte ich.
Rufe ich meine Mutter an und bitte sie, mich abzuholen, oder rufe ich die Polizei und erstatte Anzeige wegen Entführung und versuchtem Mord? Ich wusste, ich hätte das Zweite tun sollen. Es war richtig und vernünftig. Ich hätte es tun sollen, sobald ich an mein Handy gekommen war. Einfach dreimal die Neun wählen und warten. Meine Mutter müsste dann eben sehen, wie sie mit dem Finanzamt und den Gerichten klarkam.
Doch irgendetwas hielt mich davon ab, und zwar nicht nur der Gedanke, dass meine Mutter damit alles verlieren würde: ihr Haus, ihren Stall, ihr Geschäft, ihre Freiheit und – für sie vielleicht besonders schlimm – ihr Ansehen.
Es war mehr als das. Vielleicht das Bedürfnis, selbst für meine Sache zu kämpfen, mir zu beweisen, dass ich noch kämpfen konnte. Wahrscheinlich wollte ich auch dem Major vom Verteidigungsministerium zeigen, dass ich noch nicht pensionsreif war und zum militärischen Alteisen gehörte.
Vor allem aber wollte ich wohl eigenhändig Rache nehmen an dem, der mir das angetan hatte.
Vielleicht war es auch einfach nur verrückt, aber trotzdem steckte ich das Handy ein und rief niemanden an. Ich marschierte los, auf die Lichter zu, nach Hause.
Ich lebte und war frei, und solange gewisse Leute annahmen, ich sei gefangen und im Begriff zu sterben, hatte ich den Überraschungsfaktor auf meiner Seite. Strategisch gesehen war Überraschung das A und O. Man denke an den Luftangriff auf Pearl Harbor kurz vor acht an einem verschlafenen Sonntagmorgen im Dezember 1941. Elf Schiffe wurden versenkt oder schwer beschädigt und an die zweihundert Flugzeuge zerstört, aber noch nicht einmal dreißig der Angreifer abgeschossen. Über dreieinhalbtausend Amerikaner fielen oder wurden verwundet, während die Japaner ganze fünfundsechzig Mann verloren. Ich wusste das deshalb so genau, weil jeder Offiziersanwärter in Sandhurst ein Referat über ein Gefecht des Zweiten Weltkriegs halten musste, und ich hatte Pearl Harbor als Thema bekommen. Das Überraschungsmoment war ausschlaggebend gewesen.
Einmal hatte ich mich dem Feind schon gezeigt und die Folgen nur knapp überlebt. Jetzt würde ich mich verborgen halten und darüber hinaus meinen Feind in dem Glauben lassen, ich sei bereits ausgeschaltet und stelle keine Gefahr mehr dar. Wenn er mich dann für tot hielt, würde ich aus dem Versteck kommen und zuschlagen.
Auf dem Weg durch den Ort hielt ich mich im Dunkeln und mied das belebte Zentrum, wo mich jemand im Licht der hell erleuchteten Schaufenster hätte sehen können. Nur das verflixte Klicken meines rechten Beins war verräterisch. Wieder einmal nahm ich mir vor, verstärkt an einem lautlosen Gang zu arbeiten.
Auf der Zufahrt zu Kauri House blieb ich stehen.
Wollte ich wirklich, dass meine Mutter und mein Stiefvater erfuhren, was passiert war? Wie sollte ich meinen schmutzigen, ungepflegten Zustand erklären, ohne zu erzählen, wie es dazu gekommen war? Und dann? Konnte ich mich darauf verlassen, dass sie es nicht weitererzählten, auch nicht aus Versehen? Absolutes Stillschweigen war vielleicht ganz entscheidend. „Zu viel reden kostet Leben“, hieß eine Devise aus dem Krieg. Mit meinem wollte ich jedenfalls nicht bezahlen.
Aber ich brauchte dringend etwas zu essen, und ich wollte mich waschen und saubere Sachen anziehen.
Im Weitergehen sah ich, dass in den Ställen Licht brannte und die Pfleger dabei waren, auszumisten und ihre Schützlinge zu versorgen. Ich machte einen Bogen ums Haus und ging so leise wie möglich zum vorderen Stallgeviert. Erst nachdem ich mich vergewissert hatte, dass mich niemand beobachtete, trat ich aus dem Schatten und ging rasch die Treppe hinauf zu Ian Norlands Wohnung über dem Stall.
Ich war davon ausgegangen, dass Ian seine Wohnung unverschlossen ließ, wenn er unten bei den Pferden war, und ich hatte recht gehabt. Jetzt musste ich mir überlegen, was ich ihm erzählte. Es musste ausreichen, um mich seiner Hilfe zu versichern, aber ich hielt es zum Beispiel für besser, ihm nicht mitzuteilen, dass seine Arbeitgeberin weiterhin ihren Geschäften nachging, obwohl sie praktisch zahlungsunfähig war, etwas streng Verbotenes. Und ich wollte nicht, dass er vor lauter Angst die Polizei rief. Also nahm ich mir vor, ihm zwar nicht die ganze Wahrheit, aber auch keine glatten Lügen zu erzählen.
Während ich darauf wartete, dass er mit den Pferden fertig wurde, plünderte ich seinen Kühlschrank. Da sich zwischen den Bierdosen herzlich wenig Essbares fand, nahm ich mit einer Zweiliterflasche Milch vorlieb. Im Ort hatte ich mir verkniffen, beim China-Takeaway vorbeizugehen, aber ich war fest entschlossen, mir von Ian dort etwas besorgen zu lassen, sobald er von der Stallarbeit hochkam.
Die zwei Liter Milch hatte ich komplett ausgetrunken, als ich ihn auf der Treppe hörte.
Ich stellte mich direkt hinter die Tür, aber er sah mich, sobald er sie schloss. Nach der Auseinandersetzung wegen des Zaumzeugs vom vergangenen Samstag rechnete ich nicht gerade mit einer freundlichen Begrüßung, und es gab auch keine.
„Verdammt, was machen Sie denn hier?“, fragte er aufgebracht.
„Ich brauche Ihre Hilfe, Ian“, antwortete ich schnell.
Er musterte mich, die verdreckten, zerrissenen Kleider, den Stoppelbart. „Wie sehen Sie denn aus?“, sagte er vorwurfsvoll. „Was haben Sie gemacht?“
„Gar nichts“, antwortete ich. „Ich bin nur ein bisschen schmutzig und habe Hunger, das ist alles.“„Und wieso?“„Wieso was?“(Fortsetzung folgt)