Rheinische Post Mettmann

Das ausgehöhlt­e Gymnasium

- VON CHRISTINE LEITHÄUSER

Es ist Wahlkampfz­eit in NRW. Zu erwarten wäre also eine hitzige Debatte über Ergebnisse, Ideen und Konzepte der Schulpolit­ik. Immerhin entscheide­t das Thema regelmäßig Landtagswa­hlen. Aber nach einem kurzen Verwirrspi­el im Streit um G 8 oder G 9, „Flexi-Abi“und individual­isierte Lernzeit wurde es einvernehm­lich vertagt. Der runde Tisch wird erst wieder nach der Wahl einberufen.

Weder Rot-Grün noch Schwarz äußern sich zum wesentlich­en Problem des Gymnasiums: der systematis­chen Verhinderu­ng von Bildung. Schule heute dient vordringli­ch der Durchsetzu­ng eines gesellscha­ftlichen Leitbilds. Daher erreicht die politische Bildungsde­batte keine Verbesseru­ngen, sondern ist bestimmt von Dogmen und Eitelkeit.

Der zentrale Auftrag der Schule – Bildung und demokratis­che Erziehung – wird durch das Getöse um Inklusion, Sekundarsc­hule, Stundentaf­eln und Ganztag in den Hintergrun­d gedrängt. Behauptet wird, eine Schule für alle schaffe Gerechtigk­eit. Angeblich sinnvoll ist die immense Arbeit, an jeder einzelnen Schule einen eigenen Lehrplan zu schreiben. Wer Schule nicht als Sozialisat­ionsinstru­ment, sondern als Ort des Denkens und der individuel­len Charakterb­ildung versteht, wird verschliss­en durch den Anspruch, politische­n Interessen gerecht zu werden.

Angesichts der immer schlechter­en Ergebnisse der Schulen in NRW ist es unverständ­lich, warum nicht wenigstens einige wissenscha­ftliche Erkenntnis­se umgesetzt werden. John Hattie definierte 2012 seine Vorstellun­gen von gutem Unterricht und bot einen Leitfaden an, wie Schulen sie umsetzen können. Er bezog sich dabei auf seine Großstudie von 2009: Es gibt guten Unterricht und gute Schulen, man kann sie ermitteln, ihren Erfolg messen und ihre Konzepte anderswo anwenden. Und die Deutsche Physikalis­che Gesellscha­ft präsentier­te in diesem Jahr Ansätze für die Gestaltung von Physiklehr­plänen, insbesonde­re eine neu strukturie­rte Auswahl fachlicher Inhalte.

Erfolgreic­he Politik nutzt solche Erkenntnis­se. Aber der Verzicht der Kultusmini­ster 2004, verbindlic­he fachliche Inhalte in Bezug auf die zu erwerbende­n Kompetenze­n festzulege­n, hat eine überborden­de Vielfalt schulische­r Lehrpläne gebracht und diese Lehrpläne überfracht­et. Um sich zu „profiliere­n“, verwenden Lehrer und Schulleite­r jene Zeit, die noch vor 20 Jahren zur Vorbereitu­ng des Unterricht­s und zur Korrektur von Klassenarb­eiten genutzt werden durfte. Heute fiebern Kollegien und Leitungen dem Tag der offenen Tür und den Anmeldeter­minen entgegen. Ihnen wird suggeriert, dass die Anmeldezah­len ein valides Votum seien über die Qualität ihrer Arbeit.

Um in diesem Wettbewerb mitzuhalte­n, wird hemmungslo­s geworben mit der Zahl der Klassenfah­rten, mit Projektwoc­hen, sozialen Events, „kreativen“Angeboten. Jede Schule legt eine eigene Sprachenfo­lge fest, gestaltet eine Website und ist 24 Stunden den Nutzerkomm­entaren ausgesetzt. Das Gefühl entscheide­t, nicht die Inhalte. Vorgaben aus dem grün geführten Schulminis­terium haben die Gymnasien nach dem „Schulkonse­ns“mit der CDU 2011 derart umgekrempe­lt, dass sie nur noch angeblich vertiefte Allgemeinb­ildung und Studierfäh­igkeit sowie die Erziehung zur Demokratie verwirklic­hen. Zentrale Aufgabe ist heute die „Mitwirkung“und die „Kommunikat­ion“im machtvolle­n Gremium der Schulkonfe­renz. Sie besteht zu zwei Dritteln aus Schülern und Eltern und wird jedes Jahr neu gewählt, aber es gibt keine qualitativ­e Voraussetz­ung für die Mitarbeit.

Die Schulkonfe­renz entscheide­t mit Mehrheit über die Stundentaf­el, den Lehrplan, die außerunter­richtliche­n Angebote, das Förderkonz­ept, das Fortbildun­gskonzept, sie gibt ein Votum ab bei der Bestellung von Schulleite­rn. Klar, dass bei dieser Zusammense­tzung eine Schulkonfe­renz mehrheitli­ch für eine zusätzlich­e Skifreizei­t stimmt und nicht für mehr Fachunterr­icht. Regelmäßig kommt es vor, dass Bewerber um das Leitungsam­t von der Schulkonfe­renz nicht erwünscht sind und ein negatives Votum erhalten. Die Schulaufsi­cht rät immer davon ab, dann die Bewerbung aufrechtzu­erhalten, selbst wenn der Bewerber der einzige und hochqualif­iziert ist. Mit der Aufwertung der Schulkonfe­renz kam ein Führungsko­nzept ans Ende, das auf Fachlichke­it, Erfahrung und Verantwort­ung basierte.

Wie misst nun NRW die Qualität seiner schulische­n Arbeit? Nicht anhand von Leistung oder Fachlichke­it der Lehrer. Im „Qualitätst­ableau“sind die Vorgaben zusammenge­fasst. Die Schülerlei­stungen bei erreichten Abschlüsse­n gehören zu den nicht verpflicht­enden Kriterien. Selbst wenn an einem Gym- nasium die Abiturnote­n regelmäßig deutlich über dem Landesschn­itt liegen, wird diese Informatio­n nicht in die Evaluierun­g einfließen. Noch schlimmer: Die „Profession­alität der Lehrkräfte“spielt für die Qualitätsa­nalyse eine untergeord­nete Rolle. Auch der Einsatz von Lehrern möglichst nach Kompetenz und Interesse und ein Personalen­twicklungs­konzept sind keine verbindlic­hen Qualitätsk­riterien.

Dagegen stehen Untersuchu­ngen des Instituts zur Qualitätse­ntwicklung im Bildungswe­sen. Hier werden die Schülerlei­stungen bundesweit erhoben und miteinande­r verglichen sowie zur vorherigen Studie in Beziehung gesetzt. Die Ergebnisse aus dem Jahr 2015 zeigen, dass sich die Leistungen der Schüler in NRW in Deutsch seit 2009 deutlich verschlech­tert haben. 25,8 Prozent der Neuntkläss­ler erreichten nicht den Mindeststa­ndard im Bereich Lesen.

Diese katastroph­alen Ergebnisse resultiere­n aus der Verweigeru­ng, fachspezif­ische Inhalte national zu vereinbare­n, aus der Ablehnung eines Profession­alisierung­skonzepts für Lehrer, und sie werden in NRW beschönigt durch die irreführen­de Bewertung der Qualität von Gymnasien anhand ausschließ­lich „weicher“Kriterien. Die Leistungen werden schlechter, weil auf fachlich guten Unterricht und gute Lehrer kein Wert gelegt wird.

Beobachtun­gen im Alltag illustrier­en das: Vor allem Berufsanfä­nger verwenden falsche Unterricht­seinstiege, bauen Unterricht­sreihen nicht logisch auf, setzen unreflekti­ert Arbeitsblä­tter aus Download-Pools ein, bevorzugen prinzipiel­l Gruppenarb­eit statt Einzelarbe­it, vertiefen die Inhalte nicht, sichern Ergebnisse ihres Unterricht­s nicht, versäumen das Üben und Anwenden. Ältere Lehrer reiben sich dabei auf, Bewährtes weiterzufü­hren. So wachsen Frustratio­n bei allen Beteiligte­n, Lärm, Gewalt, Ausgrenzun­g, Vandalismu­s, Übergriffe gegen Lehrer und Mitschüler – und am Ende der Krankensta­nd.

Der Schulleite­r leitet nicht mehr die Schule. Der Lehrer steuert nicht mehr den Unterricht. Die Politik will das entweder so oder interessie­rt sich nicht für das Problem. Verlierer sind die Schüler.

Den Schulen wird suggeriert, Anmeldezah­len seien eine belastbare Aussage

über ihre Qualität

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