Das ausgehöhlte Gymnasium
Es ist Wahlkampfzeit in NRW. Zu erwarten wäre also eine hitzige Debatte über Ergebnisse, Ideen und Konzepte der Schulpolitik. Immerhin entscheidet das Thema regelmäßig Landtagswahlen. Aber nach einem kurzen Verwirrspiel im Streit um G 8 oder G 9, „Flexi-Abi“und individualisierte Lernzeit wurde es einvernehmlich vertagt. Der runde Tisch wird erst wieder nach der Wahl einberufen.
Weder Rot-Grün noch Schwarz äußern sich zum wesentlichen Problem des Gymnasiums: der systematischen Verhinderung von Bildung. Schule heute dient vordringlich der Durchsetzung eines gesellschaftlichen Leitbilds. Daher erreicht die politische Bildungsdebatte keine Verbesserungen, sondern ist bestimmt von Dogmen und Eitelkeit.
Der zentrale Auftrag der Schule – Bildung und demokratische Erziehung – wird durch das Getöse um Inklusion, Sekundarschule, Stundentafeln und Ganztag in den Hintergrund gedrängt. Behauptet wird, eine Schule für alle schaffe Gerechtigkeit. Angeblich sinnvoll ist die immense Arbeit, an jeder einzelnen Schule einen eigenen Lehrplan zu schreiben. Wer Schule nicht als Sozialisationsinstrument, sondern als Ort des Denkens und der individuellen Charakterbildung versteht, wird verschlissen durch den Anspruch, politischen Interessen gerecht zu werden.
Angesichts der immer schlechteren Ergebnisse der Schulen in NRW ist es unverständlich, warum nicht wenigstens einige wissenschaftliche Erkenntnisse umgesetzt werden. John Hattie definierte 2012 seine Vorstellungen von gutem Unterricht und bot einen Leitfaden an, wie Schulen sie umsetzen können. Er bezog sich dabei auf seine Großstudie von 2009: Es gibt guten Unterricht und gute Schulen, man kann sie ermitteln, ihren Erfolg messen und ihre Konzepte anderswo anwenden. Und die Deutsche Physikalische Gesellschaft präsentierte in diesem Jahr Ansätze für die Gestaltung von Physiklehrplänen, insbesondere eine neu strukturierte Auswahl fachlicher Inhalte.
Erfolgreiche Politik nutzt solche Erkenntnisse. Aber der Verzicht der Kultusminister 2004, verbindliche fachliche Inhalte in Bezug auf die zu erwerbenden Kompetenzen festzulegen, hat eine überbordende Vielfalt schulischer Lehrpläne gebracht und diese Lehrpläne überfrachtet. Um sich zu „profilieren“, verwenden Lehrer und Schulleiter jene Zeit, die noch vor 20 Jahren zur Vorbereitung des Unterrichts und zur Korrektur von Klassenarbeiten genutzt werden durfte. Heute fiebern Kollegien und Leitungen dem Tag der offenen Tür und den Anmeldeterminen entgegen. Ihnen wird suggeriert, dass die Anmeldezahlen ein valides Votum seien über die Qualität ihrer Arbeit.
Um in diesem Wettbewerb mitzuhalten, wird hemmungslos geworben mit der Zahl der Klassenfahrten, mit Projektwochen, sozialen Events, „kreativen“Angeboten. Jede Schule legt eine eigene Sprachenfolge fest, gestaltet eine Website und ist 24 Stunden den Nutzerkommentaren ausgesetzt. Das Gefühl entscheidet, nicht die Inhalte. Vorgaben aus dem grün geführten Schulministerium haben die Gymnasien nach dem „Schulkonsens“mit der CDU 2011 derart umgekrempelt, dass sie nur noch angeblich vertiefte Allgemeinbildung und Studierfähigkeit sowie die Erziehung zur Demokratie verwirklichen. Zentrale Aufgabe ist heute die „Mitwirkung“und die „Kommunikation“im machtvollen Gremium der Schulkonferenz. Sie besteht zu zwei Dritteln aus Schülern und Eltern und wird jedes Jahr neu gewählt, aber es gibt keine qualitative Voraussetzung für die Mitarbeit.
Die Schulkonferenz entscheidet mit Mehrheit über die Stundentafel, den Lehrplan, die außerunterrichtlichen Angebote, das Förderkonzept, das Fortbildungskonzept, sie gibt ein Votum ab bei der Bestellung von Schulleitern. Klar, dass bei dieser Zusammensetzung eine Schulkonferenz mehrheitlich für eine zusätzliche Skifreizeit stimmt und nicht für mehr Fachunterricht. Regelmäßig kommt es vor, dass Bewerber um das Leitungsamt von der Schulkonferenz nicht erwünscht sind und ein negatives Votum erhalten. Die Schulaufsicht rät immer davon ab, dann die Bewerbung aufrechtzuerhalten, selbst wenn der Bewerber der einzige und hochqualifiziert ist. Mit der Aufwertung der Schulkonferenz kam ein Führungskonzept ans Ende, das auf Fachlichkeit, Erfahrung und Verantwortung basierte.
Wie misst nun NRW die Qualität seiner schulischen Arbeit? Nicht anhand von Leistung oder Fachlichkeit der Lehrer. Im „Qualitätstableau“sind die Vorgaben zusammengefasst. Die Schülerleistungen bei erreichten Abschlüssen gehören zu den nicht verpflichtenden Kriterien. Selbst wenn an einem Gym- nasium die Abiturnoten regelmäßig deutlich über dem Landesschnitt liegen, wird diese Information nicht in die Evaluierung einfließen. Noch schlimmer: Die „Professionalität der Lehrkräfte“spielt für die Qualitätsanalyse eine untergeordnete Rolle. Auch der Einsatz von Lehrern möglichst nach Kompetenz und Interesse und ein Personalentwicklungskonzept sind keine verbindlichen Qualitätskriterien.
Dagegen stehen Untersuchungen des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen. Hier werden die Schülerleistungen bundesweit erhoben und miteinander verglichen sowie zur vorherigen Studie in Beziehung gesetzt. Die Ergebnisse aus dem Jahr 2015 zeigen, dass sich die Leistungen der Schüler in NRW in Deutsch seit 2009 deutlich verschlechtert haben. 25,8 Prozent der Neuntklässler erreichten nicht den Mindeststandard im Bereich Lesen.
Diese katastrophalen Ergebnisse resultieren aus der Verweigerung, fachspezifische Inhalte national zu vereinbaren, aus der Ablehnung eines Professionalisierungskonzepts für Lehrer, und sie werden in NRW beschönigt durch die irreführende Bewertung der Qualität von Gymnasien anhand ausschließlich „weicher“Kriterien. Die Leistungen werden schlechter, weil auf fachlich guten Unterricht und gute Lehrer kein Wert gelegt wird.
Beobachtungen im Alltag illustrieren das: Vor allem Berufsanfänger verwenden falsche Unterrichtseinstiege, bauen Unterrichtsreihen nicht logisch auf, setzen unreflektiert Arbeitsblätter aus Download-Pools ein, bevorzugen prinzipiell Gruppenarbeit statt Einzelarbeit, vertiefen die Inhalte nicht, sichern Ergebnisse ihres Unterrichts nicht, versäumen das Üben und Anwenden. Ältere Lehrer reiben sich dabei auf, Bewährtes weiterzuführen. So wachsen Frustration bei allen Beteiligten, Lärm, Gewalt, Ausgrenzung, Vandalismus, Übergriffe gegen Lehrer und Mitschüler – und am Ende der Krankenstand.
Der Schulleiter leitet nicht mehr die Schule. Der Lehrer steuert nicht mehr den Unterricht. Die Politik will das entweder so oder interessiert sich nicht für das Problem. Verlierer sind die Schüler.
Den Schulen wird suggeriert, Anmeldezahlen seien eine belastbare Aussage
über ihre Qualität