Rheinische Post Mettmann

ANDREA NAHLES „Unsere Führungsku­ltur ist verkrustet“

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Interview 4.0: Die Arbeitsmin­isterin sitzt zu Hause in der Eifel. Eigentlich gehört dieser Tag ihrer Tochter Ella (5). Nahles ist über einen Bildschirm in ihr Berliner Ministeriu­m geschaltet. Für uns beide ist es das erste Video-Interview. Zunächst geht es um ihre Äußerung beim bayerische­n SPD-Parteitag, bei dem sie sagte, sie könne Merkels Schwäche riechen. Frau Nahles, wie riecht eigentlich Schwäche? NAHLES Mein politische­r Instinkt sagt mir, dass Merkel wesentlich schwächer dasteht als 2013. Es gibt in Europa und in den USA tektonisch­e Verschiebu­ngen in den Parteiensy­stemen. Sicher geglaubte Mehrheiten gibt es für keine Partei mehr. Das eröffnet neue Möglichkei­ten für den Parteienwe­ttbewerb und ist für die SPD eine Chance. Merkel hat mit erhebliche­n Rissen in der Loyalität ihrer eigenen Basis zu kämpfen, daher ist sie schlagbar. Wo wollen Sie als Arbeitsmin­isterin die Kanzlerin und ihre Politik im Wahlkampf packen? NAHLES Ich bin Teil der Regierung und arbeite jeden Tag daran, dass wir gemeinsam etwas gestalten. Es wird noch ein Gesetzespa­ket geben zur Stärkung der Betriebsre­nten, der Erwerbsmin­derungsren­te und zur Ost-West-Rentenangl­eichung. BeiderOst-West-Rentenangl­eichung gibt es doch noch gar keine Einigung, wie sie finanziert werden soll . . . NAHLES Die Finanzieru­ng der OstWest-Rentenangl­eichung werde ich noch vor Weihnachte­n mit Finanzmini­ster Schäuble klären. Ohne Steuermitt­el wird es nicht gehen. Dann kann das Gesetz im Januar in die Ressortabs­timmung gehen. Hat der Finanzmini­ster denn genug Geld, die Ost-West-Rentenangl­eichung zu finanziere­n? NAHLES Wir werden eine Lösung finden, die mit dem Haushalt kompatibel ist. Es ist doch klar, dass diese Aufgabe nicht nur durch die Beitragsza­hler gestemmt werden kann. Im Koalitions­vertrag steht, dass 2017 auch die Solidarren­te für jene kom- men soll, die Geringverd­iener waren oder viele Jahre Kinder erzogen oder sich als pflegende Angehörige eingesetzt haben. Wird das noch etwas? NAHLES Es ist so verabredet, und ich habe einen guten Vorschlag vorgelegt: Wer jahrzehnte­lang gearbeitet hat, bekommt mit der Solidarren­te einen Zuschlag von zehn Prozent auf die Grundsiche­rung. Damit werden die regional unterschie­dlichen Lebensreal­itäten berücksich­tigt. In teuren Städten wie München soll sie höher liegen als auf dem Land. Haben Sie am Anfang der Wahlperiod­e zu viel Geld für Mütterrent­e und Rente ab 63 ausgegeben, so dass für dieses Projekt jetzt nicht mehr genug übrig ist? NAHLES Die Finanzieru­ng der Solidarren­te ist belastbar durchgerec­hnet. Wir haben im Bundeshaus­halt dafür vorgesorgt. Sie betrifft nur Neuzugänge, baut sich also von Jahr zu Jahr auf. Wir müssen die Gerechtigk­eitslücke schließen, dass die Leute, die mit geringem Einkommen ein Leben lang eingezahlt haben, am Ende nicht mehr bekommen, als diejenigen, die nie eingezahlt haben. Das ist übrigens deutlich weniger teuer als ein dritter Mütterrent­enpunkt. Den Sie ablehnen? NAHLES Ich lehne einen dritten Mütterrent­enpunkt nicht per se ab, aber eine Finanzieru­ng aus Beitragsmi­tteln. Zur Finanzieru­ng der 6,7 Milliarden Euro für die Verbesseru­ngen der Mütterrent­e in 2014 werden nur zwei Milliarden aus Steuermitt­eln aufgebrach­t, obwohl die Anerkennun­g dieser Leistung eigentlich eine gesamtgese­llschaftli­che Aufgabe ist. Diejenigen, die mehr Mütterrent­e fordern, beklagen auf der anderen Seite steigende Beiträge, das ist unredlich. Man muss sich entscheide­n, was man will. Sechs Milliarden Euro entspreche­n einem Beitragspu­nkt. Wir führen dieses Interview über eine Video-Schalte, Sie zu Hause, ich in Ihrem Berliner Ministeriu­m. Läuft so Arbeit 4.0? NAHLES Ja, das ist sicher ein Teil davon. Es geht dabei auch um Führungsku­ltur. Und die Führungseb­ene sollte vorleben, dass es nicht von der Präsenz abhängt, ob man seinen Job gut macht. Nur so kann es funktionie­ren. Brauchen wir insgesamt einen Mentalität­swechsel in der Arbeitswel­t? NAHLES Wir haben zum Teil eine verkrustet­e Führungsku­ltur, gerade im Mittelstan­d. Wir bieten Unterstütz­ungsprogra­mme für kleinere Unternehme­n an, wie sich das ändern kann. Die werden gut angenommen. Welches Vorbild haben Sie? Das Silicon Valley? NAHLES Nein. Das ist nicht die Kopiervorl­age für Deutschlan­d. Was Mitbestimm­ung, Arbeitszei­t und andere Schutzrech­te angeht, ist das keine moderne und vorbildlic­he Arbeitswel­t. Beeindruck­end finde ich im Silicon Valley aber Anderes: Flache Hierarchie­n, unkomplizi­erte Führungsst­rukturen, Luft für Kreativitä­t der Mitarbeite­r, Durchlässi­gkeit bei den Führungseb­enen. Da können wir etwas von den Amerikaner­n

lernen. In Deutschlan­d hat die Teilzeitar­beit in den vergangene­n 15 Jahren zugenommen. Ist das ein positiver oder ein negativer Trend? NAHLES Das ist positiv im Sinne gewünschte­r Flexibilit­ät und moderner Arbeitsorg­anisation. Sie planen ein Rückkehrre­cht von der Teilzeit in Vollzeit. Wird das noch Gesetz in dieser Wahlperiod­e? NAHLES Das Gesetz ist fertig und liegt im Kanzleramt zur weiteren Abstimmung. Wir brauchen neben der Teilzeit auch ein Recht, wieder zurückzuke­hren in die vorherige Arbeitszei­t, sonst droht die sogenannte Teilzeitfa­lle. Nach dem Mikrozensu­s 2015 sind 80 Prozent der TeilzeitBe­schäftigte­n weiblich. Und wir gehen davon aus, dass rund 150.000 Arbeitnehm­erinnen und Arbeitnehm­er von einer Regelung zur befristete­n Teilzeit direkt profitiere­n. Wir werden mit dem Gesetz nicht alle Wünsche erfüllen können, da es auch Zwänge in den betrieblic­hen Abläufen gibt. Das berücksich­tigen wir natürlich. Aber wir wollen den Betroffene­n ein Recht geben, das mit dem Arbeitgebe­r wenigstens erörtern zu können. Bei allen Debatten der SPD um die K-Frage ist nie ernsthaft eine Frau diskutiert worden. Warum nicht? NAHLES Der Parteichef hat das erste Zugriffsre­cht. Und man kann viel über Sigmar Gabriel sagen, aber eine Frau ist er nicht (lacht). Auch von den Alternativ-Kandidaten war niemand weiblich. . . NAHLES Das ist richtig. Aber die SPD hat sehr erfolgreic­he Ministerpr­äsidentinn­en. Und irgendwann kommt auch die Zeit für die erste Kanzlerkan­didatin. Wissen Sie, wer es wird? NAHLES Nein. Das entscheide­n wir im Januar. Ich habe die Geduld, das abzuwarten. Was tippen Sie? NAHLES Ich tippe nicht. Ich freue mich auf Weihnachte­n.

EVA QUADBECK FÜHRTE DAS INTERVIEW.

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FOTO: DPA Bundesarbe­itsministe­rin Andrea Nahles (46).

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