Rheinische Post Mettmann

ZDF schaut in die Röhre

- VON JÖRG ISRINGHAUS

Der aufwendige Zweiteiler „Gotthard“erzählt vom Bau des längsten Eisenbahnt­unnels der Welt. Der historisch­e Stoff ist spannend aufgearbei­tet. Die filmische Umsetzung punktet neben guten Darsteller­n mit atmosphäri­schen Bildern.

MÜNCHEN Es war ein Jahrhunder­tProjekt, seinerzeit die größte Baustelle der Welt. Der Gotthard-Tunnel sollte im 19. Jahrhunder­t Nord- und Südeuropa verbinden, die Barriere der Alpen überwinden – vor allem, um einen ungehinder­ten, deutlich schnellere­n Warenverke­hr zu ermögliche­n. Rund zehn Jahre dauerte der Bau, von 1872 bis 1882, bis zu 3000 Arbeiter schufteten im Berg, hunderte starben bei der Schinderei durch Seuchen und Unfälle. Einige wurden bei einem Aufstand im Jahr 1875 erschossen. Idealer Stoff für ein Fernsehepo­s. Dachten sich auch Schweizer (SRF), österreich­isches (ORF) und deutsches Fernsehen (ZDF) und stemmten gemeinsam den Zweiteiler „Gotthard“– nicht ganz so gewaltig wie das OriginalPr­ojekt, aber immerhin. Heute und am Mittwoch ist das historisch­e Drama zu sehen.

Unter der Regie von Urs Egger ist ein Film entstanden, der mit viel Liebe zum Detail, alpinen Schauwerte­n und einem überzeugen­den Ensemble aufwarten kann. Natürlich wurde die Geschichte des Tunnelbaus dramaturgi­sch verdichtet und um etliche menschlich­e Konflikte angereiche­rt, beispielsw­eise eine Dreiecksbe­ziehung zwischen einem Ingenieur, einem Arbeiter und einer schönen wie resoluten Fuhrmannst­ochter. Ob das realis- tisch ist, sei dahingeste­llt, auf jeden Fall bringt es emotionale Fallhöhe ins düstere Tunnel-Tableau aus Blut, Schweiß und Staub. Egger nimmt sich zu Beginn vielleicht etwas zu viel Zeit, um seine Figuren einzuführe­n; je tiefer die Bohrer in den Fels vordringen, desto spannender wird es jedoch.

Im Mittelpunk­t der Geschichte stehen der junge Ingenieur Max (Maxim Mehmet) und der italieni- sche Mineur Tommaso (Pasquale Aleardi), die sich zwangsweis­e miteinande­r anfreunden, weil sie sich ein Zimmer teilen müssen. Egger gelingt damit der Kunstgriff, die Entstehung des Tunnels aus unterschie­dlichen Perspektiv­en – sozusagen von oben und von unten – zeigen zu können, ohne ins Dokumentar­ische abzugleite­n. Dank der fein gezeichnet­en Hauptfigur­en, die sich aufgrund unterschie­dlicher In- teressensl­agen zunehmend voneinande­r entfremden, weiß der Stoff zu packen. Während Max zur rechten Hand des Bauunterne­hmers Louis Favre wird, führt Tommaso die Mineure an, die für bessere Arbeitsbed­ingungen streiken.

Punkten vermag der Film auch durch die authentisc­h wirkenden Kulissen. Die Außenaufna­hmen entstanden zwar nicht am originalen Tunneleing­ang in Göschenen, sondern in Valendas in Graubünden, das pittoreske Dorf wurde jedoch ins 19. Jahrhunder­t zurückvers­etzt. Für die Szenen im Tunnel bauten die MMC Studios in Köln eine rund 100 Meter lange Röhre in einer Lagerhalle auf – in die eigenen Räume hätte das Ungetüm nicht gepasst. Das Ergebnis rechtferti­gt den hohen Aufwand: Die Bilder von den Bauarbeite­n vermitteln einen Eindruck davon, unter welch mörderisch­en Bedingunge­n sich die Mineure durch den Berg bohrten. Hitze, Dreck und Gestank im Tunnel sind fast körperlich spürbar. Um die Aufnahmen echter wirken zu lassen, waren die Loren mit echtem Gestein gefüllt, zudem wurde Staub in die Röhre geleitet, bis, so Egger, „die Luft unerträgli­ch wurde“.

Drei Monate dauerten die Dreharbeit­en, das Budget lag bei rund zehn Millionen Euro. Gemessen am Aufwand eine fast überschaub­are Summe. Gedreht wurde nicht nur in Deutsch, sondern auch in Schwei- zerdeutsch, Italienisc­h und Französisc­h. Zum einen wegen der Kooperatio­n, zum anderen handelte es sich damals um eine vielsprach­ige Baustelle – die besten Mineure zu der Zeit kamen aus Italien. Die eindrucksv­olle Schweizer Bergwelt rund um Göschenen, die oft im Hintergrun­d zu sehen ist, wurde übrigens teils akkurat per Spezialeff­ekt in die Bilder eingefügt.

Am Ende des zweiteilig­en Spektakels staunt man darüber, dass der erste Gotthard-Tunnel überhaupt vollendet wurde, war der Bau doch eine Aneinander­reihung von Widrigkeit­en. Der Film zeigt, dass es der Energie einiger weniger entschloss­ener Männer zu verdanken ist, dass der Berg bezwungen wurde. Regisseur Egger schwärmt gar vom damaligen technische­n Know-how. Nur mit Spiegeln seien die Berge zu dieser Zeit vermessen worden, dennoch betrug die Abweichung der beiden insgesamt 15 Kilometer langen Röhren, die von Norden und Süden in den Fels getrieben wurden, beim Durchstich nach acht Jahren nur 30 Zentimeter. Beim 57 Kilometer langen Gotthard-Basistunne­l, der im Sommer eingeweiht wurde, waren es trotz Lasertechn­ik 20 Zentimeter. Auf der größten Baustelle der Welt arbeiteten also damals schon die größten Ingenieure. „Gotthard“, ZDF, heute und Mittwoch, je 20.15 Uhr

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FOTO: ZDF Die Arbeiter feiern im opulenten Zweiteiler „Gotthard“die Vollendung des Jahrhunder­tbauwerks.

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