Unrealistisch? Unwichtig!
War der „Tatort“realistisch? Kein Stück. Das Kamerasystem von Ober-Nerd Nils Engels etwa ist gekoppelt mit einer Software zur LiveGesichtserkennung. Im nächsten Moment zeigen seine Bildschirme schon die Personalakten von Paul Brix (Wolfram Koch) und Anna Janneke (Margarita Broich) – er hat sich also entweder in Sekunden oder unbemerkt schon vor längerer Zeit in das interne Netzwerk der Polizei gehackt. Außerdem trägt er eine WLAN-fähige Videokamera, die unsichtbar in eine Kontaktlinse eingearbeitet ist und sich automatisch einschaltet, sobald ihr Träger starke Emotionen verspürt. Sein Rasenmäh-Roboter sieht aus wie das Batmobil. Und wenn er mal kurz nicht am Rechner sitzt, bricht das Stromnetz in ganz Frankfurt zusammen. Ist das schlimm? Überhaupt nicht, im Gegenteil. Hier ist ja jeder und alles neben der Spur – aber eben nur leicht, nicht so maßlos wie im Münster-„Tatort“. Wer würde beschwören, dass nicht auch im echten Leben mal ein Auge durch den Raum fliegt, wenn Gerichtsmediziner das Grusel-Potenzial unterschätzen, das abgetrennte menschliche Körperteile für Laien darstellen? Die Summe solcher Szenen und Figuren sorgt für eine Surrealität, die sich noch besser nur in den besten „Tatort“-Folgen aus Wiesbaden und Weimar findet – oder in den Filmen der Coen-Brüder („Fargo“, „The Big Lebowski“).
Tobias Jochheim