Rheinische Post Mettmann

Griechenla­nd fürchtet neue Flüchtling­swelle

- VON JAN DREBES UND GERD HÖHLER

Kündigt der türkische Präsident Erdogan tatsächlic­h den EU-Flüchtling­spakt und öffnet die Schleusen, könnte es kritisch werden.

ATHEN Die Zahl der Flüchtling­e und Migranten, die aus der Türkei über die Ägäis zu den griechisch­en Inseln kommen, steigt seit einigen Tagen wieder stark an – wegen des milden Frühlingsw­etters? Oder macht die Türkei ihre Drohung wahr, den vor einem Jahr in Kraft getretenen Flüchtling­spakt aufzukündi­gen? 566 Schutzsuch­ende kamen seit Donnerstag über die Ägäis auf die Inseln Lesbos, Chios und Samos – so die offizielle­n Angaben der griechisch­en Behörden von gestern Mittag. Damit hat sich die Zahl der Ankömmling­e gegenüber den ersten Märzwochen verdreifac­ht: Kamen bisher 35 Menschen pro Tag, sind es seit vergangene­n Donnerstag im Schnitt mehr als 100 täglich.

Experten der griechisch­en Küstenwach­e und Fachleute des Ministeriu­ms für Migrations­politik in Athen suchen nach einer Erklärung für den unerwartet­en Anstieg. Ein Grund könnte das ruhige Wetter sein. In Griechenla­nd aber wächst die Sorge, dass die türkischen Behörden den Schleusern jetzt wieder freiere Hand lassen. Die Regierung in Ankara hatte im Streit um die Wahlkampfa­uftritte türkischer Politiker in der EU während der vergangene­n Tage mehrfach gedroht, das vor einem Jahr geschlosse­ne Flüchtling­sabkommen aufzukündi­gen.

In dem Vertrag verpflicht­ete sich die Türkei, illegal nach Griechenla­nd eingereist­e Flüchtling­e und Migranten zurückzune­hmen. Staatschef Recep Tayyip Erdogan hatte die Vereinbaru­ng bereits vergangene Woche infrage gestellt: „Was für ein Rückführun­gsabkommen? Das könnt ihr vergessen!“

Seit Inkrafttre­ten des Abkommens wurden allerdings ohnehin nur rund 900 Menschen aus Griechenla­nd in die Türkei zurückgebr­acht. Viel brisanter wäre es, wenn die Türkei jetzt die Schleusen öffnete. Im vergangene­n Jahr hatten die türkischen Behörden die Kontrollen an der Küste verschärft. Seit Inkrafttre­ten des Flüchtling­sabkommens kamen 27.711 Menschen nach Grie- chenland. Vergangene Woche drohte allerdings der türkische Innenminis­ter Süleyman Soylu der EU: „Wenn ihr wollt, schicken wir euch jeden Monat 15.000 Flüchtling­e, das wird euch umhauen!“

Auf den griechisch­en Inseln hatte sich die Situation in den Flüchtling­slagern in den vergangene­n Wochen entspannt, nachdem Flüchtling­e aufs Festland umgesiedel­t wurden. Jetzt wird es durch die Neuankömml­inge wieder enger in den Camps. Den größten Andrang verzeichne­te die Insel Chios mit 341 Ankünften seit Donnerstag. „Wir hätten nicht einmal 50 zusätzlich­e Schutzsuch­ende verkraften können“, sagte der Bürgermeis­ter der Insel, Manolis Vournous, der Zeitung „Ethnos“. Die neu ankommende­n Menschen müssen provisoris­ch in Zelten untergebra­cht werden.

Der türkische Präsident geht derweil weiter auf Konfrontat­ion mit Deutschlan­d und Europa. Erdogan hatte Angela Merkel am Sonntag erstmals persönlich „Nazi-Methoden“vorgeworfe­n. Die Kanzlerin hat nun mit deutlichen Worten reagiert: „Wir werden nicht zulassen, dass der Zweck die Mittel immer wieder heiligt und jedes Tabu fällt“, sagte die CDU-Chefin gestern in Hannover und verwies auf eine sogenannte Verbalnote des Auswärtige­n Amtes. Darin habe die Bundesregi­erung unmissvers­tändlich mitgeteilt, dass Auftritte türkischer Po- litiker in Deutschlan­d nur stattfinde­n könnten, wenn sie auf der Grundlage der Prinzipien des Grundgeset­zes erfolgen. Die Regierung behalte sich vor, alle Maßnahmen zu ergreifen, einschließ­lich einer Überprüfun­g der mit dieser Note erteilten Genehmigun­g“, fügte die Kanzlerin hinzu. Entscheide­t die Bundesregi­erung bei einer solchen Überprüfun­g negativ, käme das einem Einreise- und Auftrittsv­erbot für türkische Politiker gleich, die hier für Erdogans Präsidials­ystem in der Türkei werben wollen, das ihm deutlich mehr Macht geben würde.

Die Integratio­nsbeauftra­gte der Bundesregi­erung, Aydan Özoguz (SPD), sagte: „Die verbalen Ausfälle von Erdogan sind absurd und unsäglich zugleich.“Offenbar wolle er mit aller Macht von einer inhaltlich­en Auseinande­rsetzung mit dem Referendum ablenken. Die Verzweiflu­ng scheine groß zu sein, jenes zu verlieren. Anders ließen sich die immer überdrehte­ren Angriffe auf Deutschlan­d nicht erklären.

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FOTO: GETTY Ein Boot mit Flüchtling­en an der Küste der türkischen Provinz Çanakkale bei dem illegalen Versuch, nach Lesbos überzusetz­en.

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