Der Tag, der Tischtennis populär machte
1989 gewinnen Jörg „Rossi“Roßkopf und Steffen „Speedy“Fetzner WM-Gold im Doppel in Dortmund. Der Erfolg löst einen Boom in Deutschland aus. Am Montag beginnt die erste Einzel-WM seither auf deutschem Boden in Düsseldorf.
DÜSSELDORF Es ist der Abend des 8. April 1989, Schauplatz die Westfalenhalle Dortmund. Mit einem Schlag – und dies buchstäblich – hat Deutschland zwei neue Sporthelden, denn mit einem seiner gefürchteten Vorhandbälle macht Jörg Roßkopf (19) im Finale der WM gegen Zoran Kalinic und Leszek Kurcharski die Sensation perfekt. Steffen Fetzner (20) hat – wieder einmal – den entscheidenden Angriffsschlag vorbereitet, und unter dem Jubel der Fans reißt Roßkopf seinen Freund und Doppelpartner in die Höhe. Die Tischtennisprofis aus Düsseldorf sind Weltmeister. Mit 18:21, 21:17, 21:19 haben sie ihre er-
„Jede Runde, die wir überstanden, war eine
Überraschung“
Jörg Roßkopf
Tischtennis-Bundestrainer
fahrenen Gegner bezwungen. Und noch am selben Abend, nach der Siegerehrung, werden die Champions aus Dortmund ins „Aktuelle Sportstudio“des ZDF geschaltet – sogar vor den Berichten von der Fußball-Bundesliga.
Der Triumph löste einen Boom im Deutschen Tischtennis-Bund aus. Innerhalb von zwei Jahren stieg die Mitgliederzahl in Vereinen des DTTB um mehr als 80.000, die Zahl der Mannschaften um rund 1000.
Der Endspielsieg gegen das etwa zehn Jahre ältere Doppel aus Jugoslawien (Kalinic) und Polen (Kucharski), der dem deutschen Tischtennissport plötzlich eine ungeheure Popularität verschaffte, war der märchenhafte Schlusspunkt eines mitreißenden Siegeszuges. Trotz des Heimvorteils in der mit über 10.000 Zuschauern ausverkauften Halle waren sie keineswegs Titelanwärter. „Wir standen gar nicht auf dem Zettel der Favoriten, und jede Runde, die wir überstanden, war eine Überraschung“, erzählt Jörg Roßkopf. „Denn bis dahin hatten wir nur ein Turnier gewonnen, die German Open, und die besten Doppel der Welt waren da gar nicht dabei gewesen.“Zwar habe ihnen Hans Wilhelm Gäb, damals Präsident und heute Ehrenpräsident des DTTB, in einer Mannschaftsbesprechung eine Goldmedaille gezeigt, „aber wir haben da gesagt: Was soll es? Die werden wir nie holen. Unser Ziel war es, den Tischtennissport professionell zu präsentieren. Und Hans Wilhelm Gäb hatte nie damit gerechnet, dass er uns einmal das Geld auszahlen müsste“.
Der Goldtriumph und die damit verbundene Prämie rückten für die beiden Düsseldorfer erst konkret ins Blickfeld, als sie nach dem Viertelfi- nalerfolg gegen Andrzej Grubba und Philippe Gatien (Polen/Frankreich) die hohen Favoriten aus China, Chen Longcan und Wei Quingguang, mit 11:21, 21:12, 21:17 besiegten. Die Titelverteidiger und Olympiasieger hatten rund drei Jahre lang kein Spiel verloren.
Dass bei der WM die drei letzten Runden im Doppel damals noch an einem Tag ausgespielt wurden, steigerte die Dramatik so sehr, dass auch die Fans vor eine harte Nervenprobe gestellt wurden. Wie nervenstark dagegen die jungen Deutschen, die zwischen den Spielen im Hotel unmittelbar neben der Westfalenhalle Kraft tanken konnten, im Finale waren, bewiesen sie vor allem in kritischen Phasen. So verloren sie den ersten Satz, und die Wende glückte ihnen, als sie im zweiten Durchgang nach dem 9:12 acht Punkte hintereinander erzielten. „Da hatte ich, glaube ich, zum ersten Mal die Rückhand richtig durchgezogen“, erzählt Fetzner. „Bis dahin war ich ziemlich nervös gewesen.“
Als sie im dritten Satz beim 10:13 noch einmal in einen bedrohlichen Rückstand gerieten, rissen sie das Spiel erneut an sich. Zum Sieg getragen wurden die beiden von einer Woge der Begeisterung, wie sie das deutsche Tischtennis bis dahin nicht erlebt hatte. Die tolle Stimmung in der Halle war für Fetzner „ein Schlüssel zum Erfolg, und es war für uns ein Vorteil, dass sich vom Viertelfinale an alles an einem Tag abspielte“. Roßkopf erinnert sich: „Die Begeisterung wurde immer größer. Die Zuschauer haben uns nach vorn gepusht. Die Chinesen hatten im Halbfinale gar nicht mit der Gegenwehr gerechnet. Im dritten Satz waren sie mit der Situation total überfordert.“
Der Badener Steffen Fetzner und der Hesse Jörg Roßkopf, die Youngster aus der Wahlheimat Düsseldorf, verstanden sich praktisch blind, weil sie als Klubkollegen in der Woche täglich zweimal zusammen trainierten. Im Düsseldorfer Stadtteil Gerresheim teilten sie sich eine Wohnung. Seit den Zeiten in der Schüler-Nationalmannschaft standen die Talente viele Stunden gemeinsam in den Trainingshallen, und Fetzner erinnert sich, wie er an seinen Spitznamen kam: „Ich war elf Jahre alt und konnte gerade so über den Tisch gucken. Aber ich hatte mich schnell bewegt, so dass irgendein anderer Jugendspieler damals bei einem Lehrgang für mich auf den Namen ,Speedy’ kam.“
„Rossi hatte eine ungeheure Disziplin“, sagt Hans Wilhelm Gäb. „Den musste man aus der Trainingshalle rausprügeln. Er hatte die innere Dynamik und war dabei gnadenlos gegen sich selbst.“Fetzner, so Gäb, sei „ein Lebenskünstler“gewesen, „extrovertiert, charmant und eloquent. Er war die Ulknudel“. Den Ball, mit dem „Speedy“und „Rossi“in Dortmund das WM-Finale für sich entschieden, schnappte sich Gäb im Trubel des Titelrauschs. Der gebürtige Düsseldorfer ließ die Zelluloidkugel in eine Glasstele fertigen. Er bewahrte diese so lange auf, bis er sie 20 Jahre nach dem Gewinn des WM-Titels an Jörg Roßkopf weiterreichte, als der achtmalige deutsche Einzel-Meister, Europameister 1992 und Olympiadritte 1996 seine aktive Laufbahn beendete. Es war das Abschiedsgeschenk nach 14 WM-Teilnahmen und einer großartigen Erfolgsbilanz. Der Ball hat seinen Platz in Roßkopfs Wohnzimmer.