Das Haus der 20.000 Bücher
Er wolle, betonte er, „danach trachten, über verflossene Tage zu schreiben, über eine Vergangenheit, die bunt, voll von Widersprüchen und Konflikten sowie, kurz gesagt, auch von einigen durchschnittlichen und manchen verblüffend originellen und schillernden Persönlichkeiten war“. Damit griff er die Worte eines der Denker auf, die er am meisten verehrte. Der radikale Publizist und Revolutionär Alexander Herzen hatte fast anderthalb Jahrhunderte zuvor eine ähnliche Begründung für die Niederschrift seiner Memoiren gegeben. 1855, im Londoner Exil, hatte er eine Reihe von Essays über sein Leben in der von ihm herausgegebenen russischsprachigen Zeitschrift Der Polarstern veröffentlicht (die Essays wurden später in Buchform unter dem Titel Erlebtes und Gedachtes nachgedruckt). „Wer ist berechtigt, seine Erinnerungen zu schreiben?“, fragte der im Exil lebende Autor seine Leser. Seine Antwort lautete: „Jedermann. Denn niemand ist verpflichtet, sie zu lesen. Um seine Erinnerungen schreiben zu können, ist es keineswegs notwendig, ein großer Mann zu sein noch ein notorischer Verbrecher, noch ein berühmter Künstler, noch ein Staatsmann – es genügt ganz und gar, einfach ein Mensch zu sein, der etwas zu erzählen hat; allerdings sollte er nicht bloß den Wunsch haben, es zu erzählen, sondern auch eine gewisse Fähigkeit, dies zu tun.“In hohem Alter gelangte Chimen zu dem Schluss, dass es ihm an der Fähigkeit mangele, seine eigene Geschichte zu erzählen. Dennoch: Seine Geschichte war, wie er wusste, ich wusste, wie jedem klar war, der Chimen nahestand, eine Geschichte, die erzählt werden musste.
Einige Monate nach Chimens Tod wurde seine Bibliothek verkauft. Meine Familie behielt nur ein paar Bände – solche, die einen ideellen Wert für meinen Vater und seine Schwester besaßen, und solche, um die mein Bruder und ich ausdrücklich gebeten hatten. Zwei Monate später fuhr der Postbote vor meinem Haus in Kalifornien vor und entlud einen großen, schweren Pappkarton. Er enthielt die Bände, die ich mir aus dem Haus der Bücher gewünscht hatte: eine Reihe „Past Masters“-Taschenbücher, erschienen bei Oxford University Press, in denen die Weltanschauung großer Denker komprimiert dargestellt wurde: von Blaise Pascal über Thomas More und Herbert Marcuse bis hin zu Che Guevara. Sie hatten vielleicht dreißig Zentimeter auf dem fünften Regalbrett von unten in der Diele beansprucht, gleich bei der Haustür neben einem recht strengen Porträt in Öl, das den Vater meiner Großmutter zeigte. Hinzu kam eine Serie zerbröselnder alter Everyman Classics, die sämtliche großen Werke der Staatsphilosophie umfasste: von Platons Republik, Aristoteles’ Ethik und Politik bis hin zu Ernest Renans Leben Jesu und den religiösen Schriften Thomas von Aquins; außerdem gehörten dazu Machiavellis Fürst und klassische Werke von Rousseau und Voltaire; Mores Utopia; Spinozas Ethik; Immanuel Kants große philosophische Werke; Hobbes’ politische Abhandlungen; Humes philosophische Träumereien; Adam Smiths Ökonomie, Hamiltons Federalist Papers; Marx’ Kapital und Macaulays Historische Aufsätze. Sie hatten auf einem der Regale im Wohnzimmer gestanden, auf halber Höhe der Wand, die an die Diele grenzte.
Separat eintreffen – persönlich zu überbringen von meiner Mutter bei ihrem nächsten Besuch – sollte die vierte Auflage von Tocquevilles Werk Über die Demokratie in Amerika, die 1841 in New York, Boston und Philadelphia erschienen war. Eingebunden war die Originalkarte aus transparentem Papier, auf der Tocquevilles Reisen durch Amerika eingezeichnet waren, eine schöne Beigabe zu den dicken, groben Seiten, die Spuren eines Wasserschadens trugen. Der Rücken des soliden schwarzen Einbands fehlte, und das Innere des noch vorhandenen Einbandfragments wies braune Flecken auf, vielleicht der Schatten einer längst verschwundenen Entleihliste. Die hauchdünne Karte, gefaltet neben dem Titelblatt, zeigte die USA zu dem Zeitpunkt, als Missouri und Arkansas noch die Randstaaten bildeten, und der Südwesten der Karte war großenteils gelb gefärbt, als Zeichen dafür, dass er zu Mexiko gehörte. Alaska war rosa und schlicht als „Russisches Amerika“aufgeführt. In dieser Welt existierte weder Kalifornien noch Nebraska oder Arizona. Die Bevölkerung von Texas wurde mit zwanzigtausend Menschen angegeben.
Ebenfalls überbracht von meiner Mutter: eine frühe Ausgabe der Arbeiterbewegung in Amerika, gemeinsam verfasst von Marx’ Tochter Eleanor und ihrem Lebensgefährten Edward Aveling, die Herbert Gladstone, einem Sohn des liberalen britischen Premierministers William Gladstone, gehört hatte; sowie ein kleines rotes Buch aus der Workers’ Library, Erinnerungen an Lenin, geschrieben von Nadeschda Krupskaja, der Frau des Revolutionsführers.
Fünfzig Bände, vielleicht hundert, der vielen tausend in jenem Haus. Nichts als Bruchstücke. Aber diese Bruchstücke erzählten eine Geschichte, legten eine Reihe von Grundüberzeugungen dar – abzulesen an philosophischen Gedankenschulen, an Erkundungen der Demokratie und der Revolution – und boten Möglichkeiten zum Verständnis des menschlichen Verhaltens und der menschlichen Gesellschaft. Sie führten Chimen durchs Leben, dienten seiner Suche nach einem Sinn, einem Zweck, einer Struktur der menschlichen Existenz. Sie ähnelten einer Samenbank, mit deren Hilfe seine Welt zu neuem Leben erweckt werden konnte, oder Scherben aus einer Ausgrabungsstätte – die älteren Schichten verschüttet unter jüngeren, frischeren –, die entschwundenen Geschichten erlauben, ins Leben zurückzukehren.
„Was immer auch den heiligen Hieronymus bewogen haben mag, die Wanderungen der Israeliten in der Wildnis Wohnungen zu nennen“, schrieb der metaphysische Dichter John Donne in seiner gespenstischen Predigt „Todes Duell“kurz vor seinem Tod im Jahr 1631, „das Wort . . . benennt nur eine Reise, eine Wanderung.“Auch für Chimen war seine Wohnung der Ideen, sein Haus der Bücher, eher eine Exkursion, eine nie endende Entdeckungsreise als ein Ort, an dem man verweilte. Vielleicht machte er sich deshalb so wenig aus modernem Komfort, sondern lebte mit hoffnungslos überalterten Rohrleitungen, einem undichten Dach, abblätterndem Anstrich an den Fensterrahmen und unter ausgefransten Teppichen versteckten Bohlen, die mehr mit rauen Planken gemein hatten als mit sorgfältig zugeschnittenen und verlegten Dielenbrettern. (Fortsetzung folgt)