Der Weg in den Terror
Die Achtundsechziger beschränken sich nicht aufs Reden. Gewalt – rhetorisch, symbolisch oder tatsächlich – gehört zum Protest. Dutschke und Co. theoretisieren noch spitzfindig, die RAF schießt einfach.
September 1967: In Hamburg haben Demonstranten das Denkmal des Kolonialgouverneurs Hermann von Wissmann vom Sockel geholt. In der Stadt kursiert das Flugblatt eines „Aktionskomitees“: „Die Köpfe rollen... Und die Köpfe von Weichmann und Springer, von Ky und Kiesinger werden wohl auch bald rollen.“Gemeint sind der Bürgermeister, der Großverleger, der südvietnamesische Premierminister und der Bundeskanzler.
Mai 1968: Wieder Hamburg, wieder ein Flugblatt. „Die Sprache des Systems ist die Sprache der Gewalt.“In den Schulen lehrten „autoritäre und sexuell verklemmte Scheißer“, die geplanten Notstandsgesetze seien „Unternehmergesetze“. Schlussaufruf: „Treibt Hamburg in den Notstand! Macht aus Hamburg endlich Paris!“In Frankreich brennen in diesen Tagen die Barrikaden, die Staatsordnung wankt.
Oktober 1968: Vor dem Landgericht Frankfurt sprechen Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Thorwald Proll und Horst Söhnlein ihr Schlusswort. Im April haben sie zwei Kaufhäuser angezündet, als „politischen Akt“. Nun werden sie philosophisch: „Was haben wir nicht alles Nietzsche zu verdanken, diesem Antisozialisten? Zum Beispiel den Willen zur Macht. Du sollst an die Macht denken.“Das Urteil lautet auf je drei Jahre Zuchthaus.
Drei Szenen. Einmal symbolische Gewalt, einmal rhetorische, einmal tatsächliche. Zu den Widersprüchlichkeiten von 68 gehört es, dass die Protestbewegung zwar eine weitgehende Liberalisierung der bundes- republikanischen Gesellschaft verursacht hat, dass wichtige Köpfe der Revolte es aber mit Liberalismus und Pazifismus nicht so sehr hatten.
Zu 68 gehört – nicht unausweichlich, aber untrennbar – der Weg in den Terror. Als die Urteile gegen die Kaufhausbrandstifter 1969 rechtskräftig werden, tauchen Baader, Ensslin und Proll unter. Im Mai 1970 wird Baader nach einer erneuten Festnahme in Berlin mit Waffengewalt befreit. Dabei wird ein Mann schwer verletzt. Der Tag gilt als Geburtsstunde der Rote Armee Fraktion, kurz: RAF.
Gewalt gehört zumindest in den Großstädten zum Protest, angefangen mit halb satirischen Aktionen wie dem Plan eines Puddingwurfs auf US-Vizepräsident Hubert Humphrey 1967 in Berlin bis zu blutigen Straßenschlachten rund um Springer an Ostern 1968. Und selbst die heute weithin als Großtat empfundene Ohrfeige Beate Klarsfelds gegen das frühere NSDAP-Mitglied und damaligen Bundeskanzler Kiesinger ist: Gewalt. Deswegen ist Klarsfeld keine Mutter im Geiste der RAF – aber 68 beschränkte sich eben nicht aufs Reden.
Der April 1968 ist ein Wendepunkt. Am 3. brennen die Kaufhäuser in Frankfurt. Am 11., Gründonnerstag, schießt in Berlin der Hilfsarbeiter Josef Bachmann Studentenführer Rudi Dutschke in den Kopf und verletzt ihn lebensgefährlich. Am Abend fliegen Steine ins Springer-Haus, dessen Zeitungen die Protestler als „Gammler“beschimpfen, „Terror“und „Ausmerzen“geschrien haben. Lieferwagen brennen. „Bild hat mitgeschossen“, rufen die Demonstranten.
Gewalt habe für die 68er zur „Grammatik ihres Daseins“gehört, sagte kürzlich der Soziologe Heinz Bude. Dutschke illustriert das. 1968 ist er der Star der Protestbewegung. Seine Auftritte sind Predigten. Wenn Dutschke redet, ist die Gewalt nie fern. Einerseits als angebliches Strukturphänomen des Kapitalismus, andererseits als „Gegengewalt“der Befreiung – der Vietnamkrieg ist in diesem Weltbild ein heroischer Befreiungskampf. Auch die unheilvolle Unterscheidung von Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Menschen findet sich schon 1968, wenn Dutschke etwa vom „Terror gegen unmenschliche Maschinerien“doziert und hinzufügt: „Die Rotationsmaschinerie von Springer in die Luft zu jagen und dabei keine Menschen zu vernichten, das scheint mir eine emanzipierende Tat.“Vom Gewaltmonopol des demokratischen Rechtsstaats wollen solche Sätze nicht viel wissen.
Die RAF als selbst ernannte Stadtguerilla schert sich nicht einmal mehr um theoretische Spitzfindigkeiten. „Wir sagen, natürlich, die Bullen sind Schweine, wir sagen, der Typ in der Uniform ist ein Schwein, das ist kein Mensch“, sagt im Juni 1970 die Journalistin Ulrike Meinhof in einem Interview: „Das heißt, wir haben nicht mit ihm zu reden, und es ist falsch, überhaupt mit diesen Leuten zu reden, und natürlich kann geschossen werden.“Wenige Wochen zuvor hat sie bei Baaders Befreiung mitgeholfen – da wurde bereits geschossen. Am Tag des Gesprächs wird Meinhof schon steckbrieflich gesucht.
Gewalt ist nicht, darauf hat der 68er-Experte Wolfgang Kraushaar hingewiesen, das Verzweiflungsprodukt einer zerfallenden Linken. Eher schon scheiden sich an der Gewalt die Geister von 68. Die große Mehrheit tritt den Marsch durch die Institutionen an. Für wenige Radikale ersetzt die RAF die Apo. Und natürlich kann geschossen werden.