Das Haus der 20.000 Bücher
Wie auch immer, an Tagen, an denen er eine Konferenz leitete oder einen Gastredner erwartete, traf er früh in Bloomsbury ein, suchte sich einen Parkplatz, öffnete den Kofferraum (seine Fahrzeuge waren immer alt und wiesen häufig Dellen auf, die er sich auf seinen waghalsigen Fahrten durch die zunehmend verstopften Londoner Straßen eingehandelt hatte) und begann, Tablett um Tablett mit Mimis selbst gemachten Köstlichkeiten auszuladen.
Dann gab er sich größte Mühe, die Aura des Hillway-Salons in die holzgetäfelten Konferenzsäle des im 19. Jahrhundert erbauten University College London zu übertragen. Hin und wieder schlug er damit ein wenig über die Stränge, so etwa anlässlich eines Gastvortrags des japanischen Prinzen Mikasa. Dieser war ein jüngerer Bruder von Kaiser Hirohito und hatte sich einen Namen als Aramäisch-Experte gemacht. Er war umgeben von Leibwächtern, die die Statur von Sumo-Ringern hatten, erinnern sich Kollegen. Nach der Vorlesung führte Chimen den Prinzen feierlich in den Essbereich, wo er ihm Mimis Fischfrikadellen und Sandwiches anbot. Wie der königliche Gast reagiert hat, darüber schweigen sich die Archive aus.
Im Hillway erzählte Chimen freudig von Banketten in St. Antony’s oder von den Kollegiumssitzungen am University College London. Es schien ihn immer noch zu verblüffen, dass der „kleine Mann“, wie er sich selbst nannte, den Sprung auf die große Bühne geschafft hatte. Talmon, Ettinger und Robinson, seine drei engsten Freunde von der Hebräischen Universität, hatten sich Jahrzehnte zuvor wissenschaftliche Meriten erworben: Dem niederländischen Professor für Geistesgeschichte und Geschichtstheorie Frank Ankersmit galt Talmon als einer der zwanzig bedeutendsten Historiker des Jahrhunderts; Ettinger, der seine Dissertation über das Massaker an ukrainischen Juden im Jahr 1648 geschrieben hatte, galt weithin als Israels führender Kenner der neueren jüdischen Geschichte; und Robinson, einer der herausragenden Mathematiker der Welt, beschloss seine Karriere als Sterling Professor für Mathematik in Yale. Nun endlich wurde Chimen die gleiche Anerkennung zuteil. Im Familienkreis gab er voller Wonne seine Gespräche mit Isaiah Berlin an den Mahagonitischen im Athenaeum wieder; und wenn er ein Schreiben von Lord Annan, dem Vizekanzler des University College London, erhielt, liebkoste er das Papier geradezu, während er sein Publikum im Esszimmer in den Inhalt einweihte. Dass Annan, ein Mitglied des House of Lords, mit dem kleinen Mann aus Minsk, dem Ex-Kommunisten ohne Hochschulabschluss, korrespondierte, erheiterte Chimen ungemein.
Allerdings wollte und konnte er nicht über seine eigenen Bücher sprechen. Denn obwohl er mehrere Bände herausgegeben und Beiträge zu vielen anderen – zu den unterschiedlichsten Themen, vom polnischen Judentum bis zur Rolle der Juden im Schach – geleistet hatte, war nach dem umfassenden Werk über Marx und die Erste Internationale, das er zusammen mit Henry Collins verfasst hatte, kein weiteres Buch von ihm erschienen. Die Pläne für eine Marx-Biografie verkümmerten nach Collins’ Tod. Die Memoiren, zu denen ihn andere drängten, gelangten nie über ein paar Kritzeleien hinaus. Verschiedene weitere Projekte, die er Verlegern vorgeschlagen hatte (oder umgekehrt), blieben im Entwurfsstadium stecken.
(Fortsetzung folgt)