Wohin rollst du, Äpfelchen . . .
In Tula meuterte das 4. rote Infanterieregiment, die Soldaten ermordeten ihren Kommandanten und verbündeten sich mit den aufständischen Bauern des Wjenewschen Kreises. Im Norden bereitete die Armee des Generals Judenitsch unter dem Schutz der englischen Flotte ihren Angriff auf Leningrad vor.
In dieser Not griffen die Männer des Kreml zu heroischen Maßnahmen. Ein Dekret erklärte die Sowjetrepublik als im Zustand der höchsten Gefahr befindlich und rief alle waffenfähigen Arbeiter in die Rote Armee. Aus den Fabrikhöfen wurden Exerzierplätze gemacht. Die Holzarbeiter, die Textilarbeiter, die Arbeiter der Papierfabriken stellten je ein Regiment auf. Nach sechstägiger Ausbildung gingen diese Abteilungen unter dem frenetischen Jubel der Straße an die Front ab. Bleichsüchtige und unterernährte Sowjetschreiber, die noch niemals eine Waffe in den Händen gehalten hatten, wurden mobilisiert und dem Feinde entgegengeworfen. Man rief die Ostsee-Zerstörerflottille zu Hilfe. Ihr gelang, was niemand für möglich gehalten hätte: sie fuhr die Newa aufwärts, passierte die Marinskykanäle, lief in die Wolga ein und eröffnete ein ebenso unerwartetes wie mörderisches Bombardement auf die Frontlinie der Tschechoslowaken.
Von seinem Stab ehemals zaristischer Offiziere begleitet, reiste Trotzky im Eilzugtempo von einer Front zur andern. Es gab ihrer elf, und man kolportierte ein Wort des Letten Vatsetis, der Trotzkys militärischer Berater war: „Wir werden bald eine neue Front bekommen, den Hunger.“Es fehlte an Lebensmit- teln und an Brennstoff. Trotzdem feierten die Munitionswerkstätten nicht. „Wenn wir keine Kohlen bekommen, werden wir die Kessel mit den Klavieren der Bourgeoisie heizen“, erklärte Kamenew in einer Versammlung der Metallarbeiter. – Zweitägige Bahnfahrten machte man, um einen Sack Kartoffeln zu erhalten; die fliegenden Händler, die in den Straßen Moskaus Knoblauchbündel, dürren Stockfisch und Preiselbeeren feilgeboten hatten, waren über Nacht verschwunden. Nur noch Knöpfe, Schuhpasta und Notizbücher bekam man zu kaufen.
Ein Dekret forderte die Ablieferung aller im privaten Besitz befindlichen Fahrräder, Feldstecher und elektrischen Taschenlampen. Ein anderes verfügte die Mobilisierung der Bourgeoisie zur Reinigung der Straßen und Kasernen. Gleichzeitig öffnete die Kommunistische Partei allen, die ihr beizutreten wünschten, ihre Reihen. Innerhalb dreier Tage schrieben sich in Moskau allein zwanzigtausend Personen in ihre Listen ein. Man sah Arbeiter in unendlich langen Reihen angestellt auf der Straße, sie warteten stundenlang vor einem geschlossenen Schalter, nicht um Lebensmittel zu erhalten, sondern um Spenden, die für die Bewaffnung der Roten Armee bestimmt waren, abzuliefern. Die Belegschaft einer Zündholzfabrik faßte den Beschluss, „durch Steigerung der Arbeitsintensität den Klassenfeind niederzuringen“. Auf dem Kasaner Bahnhof wurde längere Zeit hindurch ein Mann beobachtet, der unter die ins Feld gehenden Truppen Pelzwerk, Schuhe, Taschenuhren, Meerschaumspitzen und Benzinfeuerzeuge verteilte. Als man ihn verhaftete, stellte es sich heraus, dass er Nacht für Nacht Passanten ausgeplündert hatte, um, wie er sagte, „mit den der Bourgeoisie entrissenen Reichtümern den tapferen Rotarmisten eine Freude zu bereiten“.
Unaufhörlich rasten Transportautos, die mit Soldaten, Maschinengewehren und Munitionskisten beladen waren, durch die Stadt. Zwei Batterien schwerer Geschütze, die zum Jaroslawer Bahnhof geführt wurden, trugen die Aufschrift: „Bis nach Paris wird man uns hören.“Von dem Dach seines Waggons hielt der Batteriekommandant eine Ansprache an die Menge, die ihm das Geleit gegeben hatte: „Hier ist die wahre Front“, rief er. „Hier bei euch in Moskau. Wir draußen decken euch nur den Rücken.“
Das Volk verstand ihn. Noch war in Moskau die Konterrevolution nicht endgültig besiegt. Man sprach davon, dass das Gebäude des Moskauer Stadtkommandos von weißen Verschwörern unterminiert sei, dass in einem Hause auf dem Smolensky-Boulevard der geheime Generalstab aller weißgardistischen Organisationen seinen Sitz habe, dass anlässlich eines bevorstehenden Kirchenfestes ein Putsch geplant sei. Die Massenverhaftungen und Exekutionen, die täglich erfolgten, gaben diesen Gerüchten immer neue Nahrung.
Da man nicht aller Verschwörer habhaft werden konnte, richtete sich der revolutionäre Zorn der Massen gegen die steinernen Sinnbilder der alten Zeit. Man riss die Zarendenkmäler von ihren Postamenten. Als man in den Sokolniki-Anlagen das Denkmal Alexanders II. in Stücke schlug, erhoben die Parkwächter und zwei Kleinbürgerfrauen schrei- end Protest: Nicht weil es das Bildnis des „Zarbefreiers“war, sondern weil sich in seiner metallenen Krone ein Amselpaar sein Nest gebaut hatte.
Allenthalben wuchsen Denkmäler und Büsten der großen Revolutionäre vergangener Zeiten aus dem Boden. Manche von ihnen verschwanden so rasch, wie sie entstanden waren. Eine Büste Bakunins, die ein futuristischer Künstler unter Verzicht auf die „reaktionären Darstellungsmittel der Bourgeoisie“aus Flaschenhülsen, Streichholzschachteln, Glühbirnen, Kistendeckeln, Telegrafendraht und Bastschuhen errichtet hatte, warf ein gegenrevolutionärer Windstoß in die Gosse.
Auf dem Roten Platz hingegen, nicht weit von der iberischen Madonna, konnte man ein Revolutionsdenkmal sehen, das primitiv und dennoch eindrucksvoll war: Eine riesenhafte Axt war in einen gigantischen weißen Block getrieben, und auf dem Block stand in großen roten Lettern: „Die weiße Garde.“– Auf den Stufen, die zu diesem Denkmal führten, fand man eines Morgens den alten Fürsten Kotschubey mit durchschossenen Schläfen. Seine drei Söhne waren im Bürgerkrieg gefallen, einer als Rotarmist, zwei als Denikinsche Offiziere. In den letzten Tagen seines Lebens hatte sich der alte Mann als Zettelankleber fortgebracht.
Das war Moskau im März des Jahres 1919. Und durch die Straßen der toll gewordenen Stadt ging Vittorin, krank, müde, hungrig, in abgerissenen Kleidern, und suchte Seljukow.