Wohin rollst du, Äpfelchen . . .
Aus der verlassenen Wohnung kam das Geräusch von Schritten. Schritte näherten sich der Türe, und durch Vittorins Hirn zuckte ein irrsinniger Gedanke, – der tote Kammerherr war gekommen, um seine Geige zu holen, nein, er sucht die braune, wollene Decke, ihn friert unter der Erde – Wahnsinn! Es ist Seljukow. Seljukow ist in Moskau, in seinerWohnung, von der Front zurück – „Wer ist da?“Eine fremde, eine unbekannte, eine nie vorher gehörte Stimme.
Der Kommandant schlug mit dem Kolben seiner Mauserpistole an die Tür.
„Öffnen Sie sofort! Hausdurchsuchung.“
Die Türe wurde nicht geöffnet. Statt der Antwort kam ein Fluch und dann ein Alarmsignal: zwei kurze, schrille, durchdringende Pfiffe.
„Los! Schlagt zu! Brecht die Tür auf!“rief der Kommandant.
Unter den Kolbenhieben der Soldaten ging die Tür in Trümmer. Ein Schuss fiel, die Kugel streifte Vittorins Schulter, ihm war sie zugedacht gewesen. Die Rotgardisten drangen in den Vorraum, warfen sich auf einen Menschen, der sich wütend zur Wehr setzte, und rissen ihn zu Boden. An ihnen vorbei eilte der Kommandant mit der Schusswaffe in der Hand in das Zimmer.
Er fand es leer. Das erste, was ihm in die Augen fiel, war eine Handpresse. Neben ihr lag ein Stoß noch druckfeuchter Flugschriften. Auf dem Schreibtisch war ein gelbliches Pulver zum Trocknen ausgebreitet, auf den Stühlen lagen Blechbüchsen, metallene Hülsen, Bleistücke und Glasröhren.
Der Tschekist trat an den Schreibtisch, nahm von dem Pulver und roch daran. Ein Geräusch ließ ihn aufblicken. In der offenen Tür, die zum Nachbarzimmer führte, stand Artemjew.
Der Mann von der Tscheka erkannte ihn nicht. Er sah in ihm einen Menschen, der in seine Hände geraten war, den er seine Macht fühlen lassen konnte. Er blies das Pulver von seinen Fingerspitzen. Dann begann er das Verhör:
„Sind Sie der Inhaber dieserWohnung? Kommen Sie näher! Eine Handpresse, Flugschriften, Sie haben hier also eine geheime Druckerei eingerichtet.“
Artemjew betrachtete mit Aufmerksamkeit das Gesicht des Tschekabeamten.
„Bist du ein Russe?“fragte er. „Eher scheinst du mir ein Kalmücke zu sein oder ein Burjate – he?“
„Ich frage, Sie haben zu antworten“, herrschte ihn der Tschekamann an. „Was ist das hier für ein Pulver?“
„Das ist Grütze“, erklärte Artemjew. „Von der nähre ich mich.“
„Sie scheinen zu Späßen gelaunt zu sein. Diese Laune wird Ihnen aber vergehen. Sie sind verhaftet.“
„Du sagst: Verhaftet. Das ist ein leeresWort. MitWorten aber kannst du nicht einmal ein Hühnchen fangen. Du wirst dich zu irgendeiner Aktion entschließen müssen. Ich bin Fjodor Artemjew.“
Der Mann von der Tscheka wurde bleich. Seine Hand, die die Mauserpistole umklammert hielt, zitterte, die Stirn wurde ihm feucht. Er wusste, dass er dieses Zimmer lebend nicht verlassen werde. Er starrte auf Artemjews geschlossene Hand. Mit heiserer Stimme begann er auf ihn einzusprechen:
„Ergeben Sie sich, das Haus ist umstellt, Sie begreifen die völlige Aussichtslosigkeit Ihrer Lage. Die Sowjetregierung wünscht kein Blutvergießen, sie wird vielleicht eine mildere Strafe in Erwägung ziehen, wenn Sie erklären, dass Sie bereit sind, im Dienst der proletarischen Massen – ich kenne Dsershinsky, ich kenne auch Steklow, mit beiden bin ich bekannt, ich werde mit ihnen reden, mich für Sie verwenden. – Bleiben Sie, wo Sie stehen, rühren Sie die Hand nicht! Erschossen werden ist kein guter Tod –“
„Wenn du wenigstens schweigen wolltest, aber du schwätzt unaufhörlich“, sagte Artemjew.
Die Rotarmisten waren mit schussbereiten Gewehren ins Zimmer getreten. Und plötzlich kam über Artemjew eine wilde Begierde, seinen Feinden noch einmal zu entkommen, in der Menge unterzutauchen, sein Werk von neuem zu beginnen. Schlaue, verwegene und unsinnige Pläne kreuzten sich sekundenlang in seinem überwachen Hirn. Er verwarf sie alle. „Seid gegrüßt!“sagte er zu den roten Soldaten.„Zu schlechter Stunde, Brüder, seid ihr gekommen.“
Er trat einen Schritt vor und schleuderte einen kleinen, rötlich glänzenden Metallzylinder, den er in der Hand verborgen gehalten hatte, in die Mitte des Zimmers.
In dem Augenblick, da die Detonation erfolgte, hatte Vittorin das Haus bereits verlassen. Er wurde plötzlich gegen eine Gaslaterne geschleudert, richtete sich auf, sah eine Frau, die schreiend und mit erhobenen Armen in ein Haustor flüchtete, sah in der Mitte des Taganskyplatzes einen Kutscher, der wie rasend auf seine Pferde einhieb, und hörte das Klirren zersprungener Fensterscheiben.
Er lief, ohne sich umzusehen, er musste fort, einen anderen Gedanken hatte er nicht. Er geriet in ein Gewirr ihm unbekannter Gassen, mit gesenktem Kopf eilte er an den Leuten, die ihm entgegenkamen, vorbei, er hielt sie alle für Geheimpolizisten, Spione und verkleidete Milizsoldaten.
Er fand sich, ohne zu wissen, wie er dahin gekommen war, vor einer Kirche. Da er vor Müdigkeit nicht weiter konnte, trat er ein. In einer Nische des Seitenschiffs, unter einem Bild des wundertätigen Nikolaus, kauerte er sich nieder und schloss die Augen.
Es war vier Uhr nachmittags, als er die Kirche verließ. Er war ruhiger geworden, die Gefahr, dass er erkannt und verhaftet werden könnte, schien ihm jetzt weniger groß. Er trat auf eine junge Frau zu, die an einer Straßenecke Streichhölzer, die Schachtel zu 60 Rubeln, verkaufte, und fragte sie nach dem Weg zum Bahnhof.Um diese Stunde hatte das Sowjetfest seinen Höhepunkt erreicht. Durch die Ssadowaja bewegte sich unter den Klängen einer bizarren Trauermusik ein Leichenzug: der Parlamentarismus wurde zu Grabe getragen. Hinter seinem Sarge schritten, von der Menge ausgepfiffen und verhöhnt, Schauspieler, die als Generale, Popen, Schnapsbrenner und Finanzmagnaten verkleidet waren. Amerika, symbolisiert durch einen ungeheuren Geldsack, wurde über den Smolenksy-Boulevard geschleift.