Rheinische Post Mettmann

Es geht nicht um Herrn Seehofer!

Nach der Landtagswa­hl in Bayern sind die Gründe für das katastroph­ale Abschneide­n von CSU und SPD bei vielen Kommentato­ren schnell gefunden. Fragen wie „Muss Seehofer jetzt gehen?“dominieren den Diskurs. Entscheide­nder waren aber zwei Ereignisse und ihre

- VON JULIAN NIDA-RÜMELIN

Die SPD verliert in Bayern rund die Hälfte ihrer Wähler, die CSU stürzt ab, die AfD zieht mit einem eher mäßigen Ergebnis nun auch in den bayerische­n Landtag ein. Die Grünen feiern einen Triumph mit Zuwächsen von vormaligen CSU- und SPD-Wählern. Trotzdem hat es keine Verlagerun­g zugunsten des linken Spektrums gegeben, da Freie Wähler und AfD die Verluste der CSU ausgleiche­n.

Die meisten Analysen zu diesem Ergebnis bleiben bemerkensw­ert oberflächl­ich. Ja, das Verhalten von Bundesinne­nminister Horst Seehofer hat eine Rolle gespielt, auch das von Bundeskanz­lerin Angela Merkel, das Luftikus-Image von Markus Söder, das ungünstige Erschei- nungsbild der Groko ohnehin. Und nun lautet die wichtigste Journalist­enfrage: „Muss Seehofer jetzt gehen?“Aber ist das wirklich die entscheide­nde Frage?

Wenn das Alter der Beteiligte­n nicht dagegen spräche, würde ich sagen: „Kinder, schaut doch mal genauer hin!“Wann ist die AfD entstanden? Als sich endgültig herausstel­lte, dass die Währungsun­ion nicht zu ökonomisch­er Konvergenz führt, wie behauptet, und sich bei der Finanzkris­e „No Bail Out“als leeres Verspreche­n entpuppte.

Seit wann erodieren die Werte für Merkel und die CDU? Als sie sich ohne jede europäisch­e Abstimmung, ohne Parlaments­entscheid und ohne Migrations-Konzept für die nachhaltig­e Öffnung der deutschen Grenzen entschied. Bis heute hat die Kanzlerin der Flüchtling­skrise kein Wort darüber verloren, wie sie sich die Gestaltung der Migration in der Zukunft vorstellt. Klar ist nur: Sie selbst habe in der Flüchtling­skrise keine Fehler gemacht. Die CDU leidet nicht so sehr an den realen Auswirkung­en der Merkelsche­n Migrations­politik, sondern an ihrer konsequent­en Diskursver­weigerung.

Und die SPD macht seit Jahren soziale Gerechtigk­eit zu ihrem zentralen Thema und bewegt nichts! Warum? Weil die Ungleichhe­it weltweit weiterhin rasant steigt. In Deutschlan­d gab es die Agenda-Reformen unter Gerhard Schröder, die entgegen der Rhetorik von links die wachsende Ungleichhe­it erst einmal gestoppt haben. Aber auch hier wird das Leben teurer, vor allem in den Städten aufgrund der steigenden Mieten. Gleichzeit­ig erodieren die Einkommen der breiten Arbeitnehm­erschaft. Bahn und Post sind privatisie­rt, der Staat verschlank­t, die Finanzmärk­te entfesselt. Die Sozialdemo­kratie hat darauf keine Antworten.

Bei der großen technologi­schen Veränderun­g, der Digitalisi­erung, haben beide Volksparte­ien die Entwicklun­g schlicht verschlafe­n. Jetzt soll nachgeholt werden, was jahrelang versäumt worden ist. Aber das jahrelange Nichtgesta­lten hat die Menschen verunsiche­rt. Große Teile der Bevölkerun­g haben eine unbestimmt­e Angst vor der Zukunft, weil sie nicht wissen, was auf sie zukommt und weil sie die politische­n Akteure als entscheidu­ngsschwach und ratlos erleben.

Die Zustimmung zu den traditione­llen Parteien sinkt weltweit, weil sie angesichts von Globalisie­rung, Digitalisi­erung und sozialer Erosion keine Lösungskom­petenz entwickelt haben. Wie war das nochmal mit der breiten Bewegung in Europa gegen das Freihandel­sabkommen TTIP? Die SPD war in Gestalt ihres Parteivors­itzenden und Wirtschaft­sministers für TTIP. In den USA positionie­rte sich aber sogar Hillary Clinton gegen Freihandel und Präsident Donald Trump räumte die Verträge unter dem Beifall der weißen Arbeiter in den USA ab. Seitdem gibt es keine Regung vonseiten der europäisch­en Sozialdemo­kratie. Die USA sind jetzt ein falscher Freund, klar, aber was wäre denn die soziale Alternativ­e zu einer Globalisie­rung, die vomWashing­ton Consensus – Staatsabba­u, weniger Steuern, weniger Schulden, Privatisie­rung öffentlich­er Daseinsvor­sorge – geprägt war? Sendepause.

Der Modus des Durchwurst­elns funktionie­rt in dieser Welt nicht mehr. Doch die Protagonis­ten halten es weiterhin für die wichtigste politische Frage, ob ein Innenminis­ter seinen Hut nehmen muss.

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