Deutschlands unbekannte Weltmeister
Die DFB-Elf von Bundestrainer Joachim Löw ist entthront, der einstige Weltmeister befindet sich im Umbruch. Zeitgleich ist Deutschland aber im Fußball dennoch an die Weltspitze gerückt – auf dem Kleinfeld.
DÜSSELDORF Herbert Zimmermanns legendäre Radio-Kommentierung von Helmut Rahns WM-Tor 1954 galt bislang als emotionale Endstufe der deutschen Sportberichterstattung. Dann kam Christoph Köchy (38), Präsident des Deutschen Kleinfeld-Fußball-Verbands und Hobby-Kommentator:
„Nicky, jetzt geh Eins gegen Eins! Geh durch! Ja! (Pause)
Ja! Jaah! Jaaah! Jaaaah! (Pause) Was für eine Szene!Von Niklas Kühle! Das ist ein Weltklasse-Tor! (Pause) Ich fass’ es nicht! Er geht am ersten vorbei. Am zweiten. Und er macht ihn einfach rein! (Mit erstickter Stimme:) Ich habe sowas noch nicht gesehen!“
Die hier beschriebene Szene machte Deutschland vor wenigen Wochen zum Sieger der ersten Fußball-Kleinfeld-Weltmeisterschaft überhaupt. Fünf Minuten waren im Endspiel gegen Polen noch zu spielen, als Torjäger Niklas Kühle zum Solo ansetzte. Er ließ zwei von fünf Gegenspielern stehen, spitzelte den Ball zum entscheidenden 1:0 am Torwart vorbei und versetzte Präsident Köchy am Mikrofon in Zimmermannsche Ekstase.
Man stelle sich an dieser Stelle kurz eine vergleichbare Situation im „echten“Fußball mit DFB-Präsident Reinhard Grindel vor.
Mit dem Deutschen Fußball-Bund (DFB) hat der Kleinfeld-Fußball-Verband (DKFV) ohnehin wenig gemein: 2011 in Göttingen aus einem Uni-Team heraus gegründet, gibt es bis heute weder eine Zugehörigkeit zum DFB noch finanzielle Unterstützung. Reisen zu Turnieren, wie dieser WM in Portugals Hauptstadt Lissabon, werden durch Sponsoren finanziert. Während der DFB rund sieben Millionen Mitglieder zählt, stellt der DKFV seine 14-köpfige Auswahl aus 10.000 Aktiven zusammen. Bei den jährlichen Europameisterschaften reichte es 2013 als bestes Ergebnis für Platz drei – umso überraschender kam nun der Titel bei der WM-Premiere.
„Wir sind als krasser Außenseiter ins Turnier gegangen. Russland oder Polen wurden stärker eingeschätzt“, sagt Dominic Reinold. Der 29-jährige Rheinländer ist seit 2016 im Team. Beim WM-Erfolg trug er als Topscorer mit vier Treffern und neun Vorlagen maßgeblich zum Erfolg bei. Was wenig verwunderlich ist, denn Reinold ist einer von zwei ehemaligen Profifußballern im Team, spielte etwa in Portugals erster Liga, ehe ihn eine Knieverletzung 2015 zum Ende der Profi-Karriere zwang. Mittlerweile betreibt er eine Fußballschule. Gegen den Ball tritt Reinold selbst nur noch beim Duell Sechs-gegen-Sechs auf dem Kleinfeld, das etwa halb so groß ist wie ein normaler Fußballplatz. Die Enge sorgt für Intensität und verlangt von den Spielern besondere Fähigkeiten: „Das Spiel ist schnell und anspruchsvoll. Fehlpässe kann man sich kaum leisten. Es gibt Kreisliga-Spieler, die kommen bei uns gut zurecht, und es gibt Bundesliga-Spieler, für die ist das technisch zu hoch“, sagt Reinold. Außerdem ist das Spiel von Zweikämpfen geprägt, Foulpfiffe der Schiedsrichter gibt es kaum.
Bislang wurde der Kleinfeld-Fußball von osteuropäischenVertretern dominiert. Sechs der bisherigen neun EM-Titel gingen an Rumänien, die übrigen an Tschechien, Russland und Kasachstan.„In Osteuropa gibt es ein etabliertes Ligen-System für Kleinfeld-Fußball. Entsprechend bringen diese Länder viele Spieler mit Erfahrung mit“, sagt Reinold. In Deutschland spielen die meisten Aktiven im Alltag auf dem Großfeld in den Amateurligen.
Entsprechend schwierig war der Weg zum WM-Titel, auf dem für die deutsche Auswahl ein Großteil der gefürchteten Ost-Konkurrenz gewartet hatte: Gegen Kroatien setzte es eine 0:2-Niederlage in der Vorrun- de. Nur durch Kantersiege gegen Angola und Indien gelang der Achtelfinaleinzug. Dort lag das Team gegen Slowenien dreimal zurück, siegte aber durch ein Tor in der Nachspielzeit mit 4:3. Im Viertelfinale drehte Deutschland ein 0:2 gegen die USA und setzte sich im Halbfinale mit 4:3 gegen Russland durch, ehe man im Finale Favorit Polen schlug. „Wir sind als Team zusammengewachsen und dann bis zum Schluss auf einer Euphorie-Welle geritten“, sagt Reinold. Die Feier am Samstagabend nach dem gewonnenen Finale endete für den Großteil der Mannschaft erst am nächsten Morgen am Flughafen.
Die Mission WM-Titelverteidigung führt die Mannschaft 2019 nach Kreta. Für die Ausrichtung des WM-Turniers im Jahr 2021 arbeitet der DKFV an einer Bewerbung. Als möglicher Austragungsort ist laut Präsident Köchy auch Düsseldorf im Gespräch:„Die Stadt kann wegen ihrer starken Struktur als Sportstadt ein Thema werden.“Das WM-Turnier in Lissabon sei ein gutes Vorbild gewesen. „Das Stadion lag direkt im Zentrum von Lissabon und war im Finale mit 3000 Leuten voll“, sagt Köchy.
Ein Kleinfeld-Großevent in Deutschland könnte für mehr Bekanntheit sorgen. Innerhalb des Fußballs nimmt dieVariante bislang Rang drei ein.„DerWeltverband Fifa und der DFB fokussieren sich stark auf Futsal“, sagt Köchy. Auch diese Fußball-Version wird auf dem Kleinfeld gespielt, aber in der Halle und mit einem kleineren Ball. Der DFB stellt und fördert eine Futsal-Nationalmannschaft – die Qualifikation für dieWM vor zwei Jahren verpasste die Auswahl allerdings.