EU-Blues im Osten Europas
Am 1. Januar hat Rumänien zum ersten Mal die EU-Ratspräsidentschaft übernommen, doch von Freude ist im Land bisher wenig zu spüren.
BUKAREST Wer zum Jahresabschluss schnell noch etwas Gutes tun wollte und nach einer Spendenaktion suchte, der konnte auch 2018 wieder auf die Rumänien-Hilfe stoßen. Besonders beliebt waren einmal mehr die selbst gepacktenWeihnachtspakete. Kaffee und Kekse für die armen Ostkinder. Dabei könnte schnell in Vergessenheit geraten, dass Rumänien seit 2007 EU-Mitglied ist und eigentlich zum Klub der Privilegierten gehören sollte.
Genau das ist das Problem, das viele Rumänen mit der Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft am 1. Januar mit „denen da im Westen“haben. Sie fühlen sich unter Wert wahrgenommen. Ministerpräsidentin Viorica Dancila, die in Bukarest eine umstrittene, als korrupt geltende Regierung führt, nutzte diese Stimmungslage zu einer Offensive in eigener Sache. Die andauernden Attacken aus Brüssel auf Rumänien seien „nicht länger hinnehmbar“. Andere EU-Staaten seien viel korrupter, wür- den aber geschont, kritisierte sie und verlangte mehr Respekt für ihr Land.
Dancila traf damit einen Nerv, nicht nur bei ihren Landsleuten, sondern bei den Menschen im Osten Europas insgesamt. Auch in Warschau, Prag oder Budapest machen Populisten seit Jahren Politik mit dem Grundgefühl vieler Bürger, noch immer die „Schmuddelkinder“des Kontinents zu sein – oder bestenfalls die armen Verwandten. Manche Unzufriedene in der Region sehen sogar in der rumänischen Ratspräsidentschaft einen Beleg dafür, dass der Osten vomWesten mindestens gemobbt werde. Tatsächlich hat es volle zwölf Jahre gedauert, bis das Land zum ersten Mal den Vorsitz im Rat der EU übernehmen und die Gemeinschaft nach außen repräsentieren darf.
Dafür gibt es natürlich Gründe. Verantwortlich ist vor allem die große Zahl der 28 Mitgliedsstaaten. Bei einem halbjährlichen Wechsel der Präsidentschaft dauert es eine gewisse Zeit, bis jedes Mitglied einmal an der Reihe war. Aber manch klei- nere westliche Staaten wie Irland, Luxemburg und die Niederlande, die 2004/05 die Ratspräsidentschaft innehatten, waren zwischen 2013 und 2016 schon wieder dran. Da fällt es nicht leicht, Dancilas Kritik zu entkräften, osteuropäische Länder würden in der EU wie „Mitglieder zweiter Klasse“behandelt.
Vor diesem Hintergrund verwundert die relative Lustlosigkeit der Rumänen gegenüber der Führungsrolle in der Gemeinschaft nicht.Vor gut zehn Jahren war das noch anders. Als mit Slowenien 2008 erstmals ein osteuropäischer Staat den Ratsvorsitz übernahm, herrschte dort pure Euphorie. Der Stimmungswandel mag allerdings auch damit zu tun haben, dass die Institution selbst seit 2010 an Bedeutung verloren hat. Seitdem gibt es einen ständigen Präsidenten. Derzeit ist dies der Pole Donald Tusk.
Das allein reicht allerdings kaum aus, um den rumänischen EU-Blues zu erklären. Vielmehr sind es real existierende Probleme, die den Menschen im Osten Europas auf den Nägeln brennen. Am meisten Schmer- zen verursacht dasThema Migration. Dabei geht es weniger um die Angst vor Flüchtlingen oder Muslimen, als vielmehr um die Abwanderung der eigenen Bevölkerung, den sogenannten Brain Drain, zu Deutsch etwa: Talentflucht. Mehr als drei Millionen Rumänen arbeiten derzeit im EU-Ausland, bei einer Bevölkerung von rund 20 Millionen. Seit dem EU-Beitritt 2007 haben allein 50.000 Ärzte und Apotheker das Land verlassen. In anderen osteuropäischen Staaten ist es kaum besser.
Die Auswanderungswelle hat zwar dazu geführt, dass Rumänien mit 4,3 Prozent die niedrigste Arbeitslosenquote seit dem Ende des Kommunismus hat. Aber es fehlt an allen Ecken und Enden an Fachkräften und Hochqualifizierten. Wohin das führen kann, zeigte sich jüngst in Ungarn. Dort beschloss die Regierung ein neues Arbeitszeitgesetz. Unternehmen dürfen künftig 400 Überstunden im Jahr von ihren Beschäf- tigten verlangen, was faktisch auf eine 48-Stunden-Woche hinausläuft.
All das darf natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in den jungen EU-Mitgliedsstaaten allerlei hausgemachte Probleme gibt. Beispiel Rumänien: Wenn Ministerpräsidentin Dancila behauptet, andere EU-Staaten seien viel korrupter als ihr Land, dann lässt sich die These kaum halten. In der Rangliste von Transparency International werden aus der EU nur Ungarn und Bulgarien hinter Rumänien geführt.
Und das ist kein Zufall. Die regierende PSD gilt als Inbegriff postsozialistischer Seilschaften. Die Partei hat mit den ehemaligen Ministerpräsidenten Adrian Nastase und Victor Ponta sowie dem aktuellem Parteivorsitzenden Liviu Dragnea gleich drei prominente Politiker hervorgebracht, die wegen schwerer Korruptionsvorwürfe insVisier der Justiz gerieten. So gesehen sind die Attacken von Ministerpräsidentin Dancila auf die EU, es werde mit zweierlei Maß gemessen, kaum mehr als ein Plädoyer in eigener Sache.