Cambridge 5 – Zeit der Verräter
Das Garden House ist ein Hotel hier in Cambridge, es hat mittlerweile seinen Namen geändert und heißt jetzt Doubletree. Im Februar 1970 gab es da eine Studentenrevolte. Ich hab das in alten Studentenzeitungen nachgelesen.“
„Wieso liest du alte Studentenzeitungen?“, fragte Wera.
„Recherche für meine Dissertation. Also, Davids Vater war bei dieser Demo dabei und wurde wegen schwerer Körperverletzung verhaftet. Die Sache konnte nicht bewiesen werden, aber er verlor am Ende seinen Studienplatz.“
Wera schaute ihn verständnislos an. „Was hat das jetzt mit Hunt zu tun?“
Jasper antwortete ihr sehr langsam, als ob er einer Dreijährigen etwas erklären müsste: „Hunt war damals der Anführer der Demonstranten. Aber Stef wurde am Ende von der Uni geworfen, und Hunt konnte bleiben. Wenn du mich fragst, hat Hunt einen Deal mit der Polizei gemacht.“
Wera schien nicht überzeugt. „Nennst du das gute Quellenarbeit, Jasper? Es könnte hundert andere Gründe geben, warum sie sich zerstritten haben.“
„Nenn mir einen“, sagte Jasper. Wera zog ein Foto aus der Tasche. „Vielleicht wegen einer Frau? Dieses Foto ist im Hof von New College aufgenommen worden: Hunt, eine junge Frau und Stef.“
Polina lehnte sich nach vorne, um das Bild besser sehen zu können. „Woher hast du das?“
„Es lag in einem Buch, in dem ich bei Davids Party geblättert habe. Eine Erstausgabe von Hunts Dissertation.“
„Und wer hat das Foto gemacht?“, fragte Jasper.
Wera zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung.“
„Okay, es muss also eine Gruppe von Freunden gegeben haben, die an der Garden-House-Demo beteiligt waren, und diese Frau war wahrscheinlich auch dabei. Ich muss nachsehen, ob Studentinnen in den Berichten erwähnt werden. Es gabVerurteilungen wegen Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung. Nur Davids Vater wurde zusätzlich wegen Körperverletzung angeklagt. „Und Hunt?“, fragte Wera. „Das ist ja das merkwürdige an der Sache. Hunts Name taucht nirgends auf. Weder als Beschuldigter noch als Zeuge.“
„Aber vielleicht liegt das daran, dass er einfach nichts gemacht hat!“
Jasper zog aus seiner Tasche Fotokopien der alten Studentenzeitungen hervor. „Hier, schau dir das an: Hunts erster Artikel über die Brutalität der griechischen Junta wurde am 4. Februar 1970 publiziert. Und eine Woche später, am 12. Februar, erschien sein Aufruf an alle Cambridgestudenten, gegen das griechische Obristenregime vor dem Garden-House-Hotel zu protestieren. Und du glaubst, er war in der entscheidenden Nacht nicht aktiv?“
Wera griff nach den Fotokopien und fing an zu lesen.
„Hunt ist genauso wie David“, murmelte Jasper, „zieht immer diese intellektuelle Überlegenheitsnummer ab und kommt mit allem davon.“
„Spinnst du jetzt?“Polina war aufgestanden; sie sah wütend aus.„Wie kannst du so etwas sagen! David ist seit gestern Vollwaise! Und ich kenne euren Hunt zwar nicht, aber soviel ich weiß, ist er ein Mann, der gegen ein Unrechtsregime protes- tiert hat. Ich weiß nicht, was daran schlecht ist. Er hat ganz offensichtlich mehr im Leben geleistet als du, Jasper. Deine Art, Leute mit Dreck zu bewerfen, finde ich jämmerlich!“
„Wieso mit Dreck? Ich stelle doch nur ein paar legitime Fragen.“
„Ich weiß nicht, welche Pillen du heute eingeworfen hast“, sagte Polina, „aber mir reicht das jetzt.“
Sie ging zur Tür. Wera stand auf, um ihr zu folgen, aber Jasper zog sie in den Sessel zurück. Er wollte auf keinen Fall, dass zwei Frauen von seinem Tisch flüchteten. Jeden Moment könnte Professor Clark hereinkommen.
„Was meinte Polina mit ,Pillen’?“, fragte Wera.
„Was weiß ich, was diese Hysterikerin sich zusammenfantasiert. Ich verstehe wirklich nicht, warum sie David immer noch verteidigt. Ist doch schon lange klar, dass er mit ihr Schluss machen will.“
„Wieso will er mit ihr Schluss machen?“
„Keine Ahnung. Sie haben sich doch andauernd gestritten.“„Das ist dir auch aufgefallen?“„Ich bin nicht blind, Wera.“„Aber warum? Warum haben sie sich gestritten?“
Jasper hatte kein Interesse, die Sache zu analysieren.
„Was weiß ich. Wahrscheinlich, weil sie nie Zeit für ihn hat.“„Ja, sie muss sehr viel arbeiten.“„Deine Naivität ist wirklich rührend, Wera! Das hat nichts mit Arbeit zu tun. Frauen wie Polina haben immer mehrere Männer gleichzeitig laufen.“
„Das ist nicht dein Ernst!“„Können wir jetzt mal zu etwas Wichtigerem kommen? Als du Davids Vater gefunden hast, hat er da noch gelebt?“
Wera zuckte zusammen. Sie brauchte eine Weile, bis sie antworten konnte.
„Ja.“
„Aber er hat nichts gesagt, oder?“„Nein.“
„Und da war sonst niemand außer euch in Hunts Zimmer, absolut niemand?“
„Wir waren allein.“„Scheiße.“
Jasper schloss die Augen. Es war alles komplizierter, als er dachte. Er brauchte jetzt dringend einen Aufheller. Gott sei Dank hatte er für den Notfall immer etwas dabei. Wera sah schlecht aus und hätte sicher auch etwas in der Art nötig, aber das konnte er nicht riskieren. Sie war der unschuldige Typ, der sicher noch nie Drogen genommen hatte.Wahrscheinlich würde sie sich furchtbar aufregen, wenn er ihr was anbot. Stattdessen schenkte er ihr Kaffee nach und machte sich auf den Weg zur Toilette. Er sah nicht mehr, dass Christopher Clark ins Kaffeehaus kam und einen Espresso zum Mitnehmen bestellte.
Januar Cambridge
Die Entdeckung von Stefs Stick hatte alles verändert. Über Monate war es ein Leichtes gewesen, ihn regelmäßig abzuschöpfen, seine Firma war ein einziges löchriges Sieb. Es war beinahe zu einfach gewesen. Und dann auf einmal schien er aufgewacht zu sein. Sein plötzliches Misstrauen hatte dazu geführt, dass er alles und jeden in seiner Umgebung infrage gestellt hatte. Sogar die Geschichte aus den Siebzigerjahren war hochgekommen.
(Fortsetzung folgt)