„Fontane war ein kritisch abwägender Konservativer“
Der Fontane-Forscher ist Professor an der Uni Potsdam und leitet seit zwei Jahren das dort angegliederte Theodor-Fontane-Archiv.
Sollten Schüler noch „Effi Briest“lesen?
TRILCKE Der Roman fragt danach, unter welchenVoraussetzung ein Mensch in einer Gesellschaft glücklich werden kann. Es ist also gut, wenn man schon ein wenig Lebenserfahrung besitzt, wenn man „Effi Briest“liest. Ich erlebe manchmal Studierende, die in der Schule wenig mit dem Buch anfangen konnten, im Studium geht ihnen aber etwas auf. Effi Briest wird unglücklich, weil sie auf die Rolle der Repräsentation und des Mutterseins reduziert wird. Man kann auch sagen: Ihr Problem ist, dass sie nur Funktion ist und sich nicht selbst verwirklichen kann, etwa indem sie arbeiten geht. Sie langweilt sich. Man kann über Effi Briest also durchaus zu aktuellen Dingen ins Gespräch kommen.Voraussetzung ist aber, dass Menschen Lust haben, sich der Langsamkeit des Erzählens auszusetzen.
Fontane lebte in der Hochzeit der Industrialisierung – wie reflektierte er das?
TRILCKE Der späte Fontane nimmt das sehr kritisch wahr. Er erkennt die neue Macht der Arbeiter und sieht, dass die alten Eliten, vor allem der Adel, den Wandlungsansprüchen der Zeit nicht gewachsen sind, obwohl sie noch hohe Ämter besetzen. Fontane schreibt keine Arbeiterliteratur, aber die kleinen Dienstleute, die bei ihm vorkommen, haben das Herz am richtigen Fleck. Sie blicken realistisch auf die Welt.
Aber er sah im Adel den letzten Rest von Poesie in der Moderne.
TRILCKE Genau. Menschen wie der alte Dubslav von Stechlin zeigen noch Fürsorge und eine gewisse Selbstironie. Doch Fontane sah, dass die Moderne keinen Platz für Poesie hat, sondern in die Prosa abdriftet. Er fängt an zu erkennen, wie der ungeheure Umbau der Gesellschaft – Kommunikation, Mobilität, Globalisierung – das Zusammenleben verändert.
War er ein Konservativer?
TRILCKE Ein kritisch abwägender Konservativer und manchmal eher ein Liberaler. Er hat den Wert bestimmter Traditionen gesehen und wollte daran festhalten. Aber für ihn mussten sich solcheWerte in der Gegenwart beweisen. Und wenn etwas nicht mehr sinnvoll erschien, konnte er sich davon trennen. Er war nie ein Dogmatiker. Man kann ihm das auch vorwerfen als eine gewisseWankelmütigkeit. Aber Fontane wusste, dass sich dieWelt verändert und dass der Mensch sich mitwandeln muss. Da war er Pragmatiker – ein Realist.
Welche Rolle hat sein eigener Migrationshintergrund gespielt? Er stammte ja aus einer alten Hugenotten-Familie.
TRILCKE Ihm war bewusst, dass es Mechanismen der Ausgrenzung, Stigmatisierung und der Gruppenbildung gibt. Zugleich hat er selbst gelegentlich in nationalen, manchmal auch in antisemitischen Stereotypen gedacht. Doch er besaß ein europäisches Bewusstsein. Er sah, dass Nationalstaaten eine historische Funktion haben, dass die europäischen Völker aber mehr verbindet als trennt.
Wie passt Antisemitismus in sein Denken?
TRILCKE Bei Fontane nimmt der Antisemitismus im Alter zu. Er äußert sich nie öffentlich in dieser Richtung, nur im Briefwerk. Er hatte auch immer jüdische Freunde, aber er schwamm mit auf einer Welle des wachsenden, auch akademischen Antisemitismus, wobei da auch Sozialneid-Stereotype eine Rolle spielten. Für mich passt das alles nicht zu seinem sonst so toleranten, menschenfreundlichen Denken. Aber Menschen sind nun mal nicht ohneWidersprüche. Und Fontane war kein Säulenheiliger.