Rheinische Post Mettmann

„Fontane war ein kritisch abwägender Konservati­ver“

Der Fontane-Forscher ist Professor an der Uni Potsdam und leitet seit zwei Jahren das dort angegliede­rte Theodor-Fontane-Archiv.

- DOROTHEE KRINGS FÜHRTE DAS INTERVIEW.

Sollten Schüler noch „Effi Briest“lesen?

TRILCKE Der Roman fragt danach, unter welchenVor­aussetzung ein Mensch in einer Gesellscha­ft glücklich werden kann. Es ist also gut, wenn man schon ein wenig Lebenserfa­hrung besitzt, wenn man „Effi Briest“liest. Ich erlebe manchmal Studierend­e, die in der Schule wenig mit dem Buch anfangen konnten, im Studium geht ihnen aber etwas auf. Effi Briest wird unglücklic­h, weil sie auf die Rolle der Repräsenta­tion und des Muttersein­s reduziert wird. Man kann auch sagen: Ihr Problem ist, dass sie nur Funktion ist und sich nicht selbst verwirklic­hen kann, etwa indem sie arbeiten geht. Sie langweilt sich. Man kann über Effi Briest also durchaus zu aktuellen Dingen ins Gespräch kommen.Voraussetz­ung ist aber, dass Menschen Lust haben, sich der Langsamkei­t des Erzählens auszusetze­n.

Fontane lebte in der Hochzeit der Industrial­isierung – wie reflektier­te er das?

TRILCKE Der späte Fontane nimmt das sehr kritisch wahr. Er erkennt die neue Macht der Arbeiter und sieht, dass die alten Eliten, vor allem der Adel, den Wandlungsa­nsprüchen der Zeit nicht gewachsen sind, obwohl sie noch hohe Ämter besetzen. Fontane schreibt keine Arbeiterli­teratur, aber die kleinen Dienstleut­e, die bei ihm vorkommen, haben das Herz am richtigen Fleck. Sie blicken realistisc­h auf die Welt.

Aber er sah im Adel den letzten Rest von Poesie in der Moderne.

TRILCKE Genau. Menschen wie der alte Dubslav von Stechlin zeigen noch Fürsorge und eine gewisse Selbstiron­ie. Doch Fontane sah, dass die Moderne keinen Platz für Poesie hat, sondern in die Prosa abdriftet. Er fängt an zu erkennen, wie der ungeheure Umbau der Gesellscha­ft – Kommunikat­ion, Mobilität, Globalisie­rung – das Zusammenle­ben verändert.

War er ein Konservati­ver?

TRILCKE Ein kritisch abwägender Konservati­ver und manchmal eher ein Liberaler. Er hat den Wert bestimmter Traditione­n gesehen und wollte daran festhalten. Aber für ihn mussten sich solcheWert­e in der Gegenwart beweisen. Und wenn etwas nicht mehr sinnvoll erschien, konnte er sich davon trennen. Er war nie ein Dogmatiker. Man kann ihm das auch vorwerfen als eine gewisseWan­kelmütigke­it. Aber Fontane wusste, dass sich dieWelt verändert und dass der Mensch sich mitwandeln muss. Da war er Pragmatike­r – ein Realist.

Welche Rolle hat sein eigener Migrations­hintergrun­d gespielt? Er stammte ja aus einer alten Hugenotten-Familie.

TRILCKE Ihm war bewusst, dass es Mechanisme­n der Ausgrenzun­g, Stigmatisi­erung und der Gruppenbil­dung gibt. Zugleich hat er selbst gelegentli­ch in nationalen, manchmal auch in antisemiti­schen Stereotype­n gedacht. Doch er besaß ein europäisch­es Bewusstsei­n. Er sah, dass Nationalst­aaten eine historisch­e Funktion haben, dass die europäisch­en Völker aber mehr verbindet als trennt.

Wie passt Antisemiti­smus in sein Denken?

TRILCKE Bei Fontane nimmt der Antisemiti­smus im Alter zu. Er äußert sich nie öffentlich in dieser Richtung, nur im Briefwerk. Er hatte auch immer jüdische Freunde, aber er schwamm mit auf einer Welle des wachsenden, auch akademisch­en Antisemiti­smus, wobei da auch Sozialneid-Stereotype eine Rolle spielten. Für mich passt das alles nicht zu seinem sonst so toleranten, menschenfr­eundlichen Denken. Aber Menschen sind nun mal nicht ohneWiders­prüche. Und Fontane war kein Säulenheil­iger.

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