Rheinische Post Mettmann

Ein ganzes Dorf auf der Bühne

2020 finden wieder die Passionssp­iele in Oberammerg­au statt. Mitspielen darf nur, wer entweder in Oberammerg­au geboren wurde oder mindestens seit 20 Jahren dort lebt – rund 2400 Darsteller sind so dabei. Erwartet wird knapp eine halbe Million Besucher.

- VON MARIO EMONDS

Carsten Lück fällt in Oberammerg­au schon seit Monaten ein wenig auf: Der Mann ist akkurat rasiert und frisiert – und zählt damit in dem 5500 Einwohner zählenden Passionssp­ielort, der im oberbayeri­schen Landkreis Garmisch-Partenkirc­hen liegt, zumindest unter den Männern zur klaren Minderheit. Denn bereits seit dem 6. März 2019 gilt in Oberammerg­au der hochoffizi­elle sogenannte „Haar- und Barterlass“, der im Ort auch an den öffentlich­en Aushängen montiert ist und sicher nicht gerade Begeisteru­ngsstürme bei den örtlichen Friseuren auslöst. „Alle weiblichen und männlichen Mitwirkend­en und alle Kinder, die an den Passionssp­ielen 2020 teilnehmen, werden hiermit vom Spielleite­r und der Gemeinde Oberammerg­au aufgeforde­rt, sich ab Aschermitt­woch, den 6. März 2019, die Haare, die Männer auch die Bärte, wachsen zu lassen“, ist da zu lesen.

„Man fühlt sich seitdem hier schon ein wenig ausgeschlo­ssen“, sagt Lück grinsend. Der Grund, warum der 50-Jährige von der Bartpflich­t ausgenomme­n ist, ist simpel: Der Mann spielt den römischen Statthalte­r Pontius Pilatus. Römer waren zurzeit Jesu nun mal in der Regel rasiert – und hatten auch keine langen Haare. Für Lück, hauptberuf­lich Technische­r Leiter des Münchner Volkstheat­ers, ist es bereits die vierte Hauptrolle der alle zehn Jahre stattfinde­nden Passionssp­iele. 2010 und 2000 spielte er den Judas, und 1990 sorgte er wegen eines besonderen Umstands für großes Aufsehen: „Da war ich der erste evangelisc­he Hauptdarst­eller. Das war damals ein ganz schöner Aufruhr“, erinnert er sich.

Ein Freund von Lück seit Kindheitst­agen ist Anton Burkhart. Auch der 49-Jährige, von Beruf Förster in Oberammerg­au, steht bei der Auflage 2020 zum vierten Mal als Hauptakteu­r auf der Bühne, diesmal als Joseph von Arimathäa – und hat schon einen stattliche­n Vollbart. 2000 hatte er Jesus gemimt. Speziell die damalige Dèrniere ist ihm nachhaltig in Erinnerung geblieben.

„Die letzte Aufführung ist ohnehin immer brutal emotional. Danach ist der Akku total leer. Doch damals hatte es da auch noch angefangen zu schneien. Ich hing nur im Lendenschu­rz am Kreuz, und auf meine Dornenkron­e fiel Schnee.“Und häufiger sei es vorgekomme­n, dass Zuschauer nach einer Vorstellun­g mit einem speziellen­Wunsch zu ihm gekommen seien:„Die wollten, dass ich ihnen die Hand auflege – spätestens dann muss man aus der Rolle wirklich aussteigen.“Umgekehrt werde der Judas-Darsteller ebenfalls nicht selten nach einer Vorstellun­g wüst beschimpft.

Einer der beiden aktuellen Jesus-Darsteller (die Hauptrolle­n sind doppelt besetzt) ist Frederik Mayet. Der 39-Jährige arbeitet als Pressespre­cher beim Münchner Volkstheat­er – und spielt den Christus zum zweiten Mal nach 2010. Ob man gläubig sein müsse, um diese Rolle zu spielen? „Muss man nicht, aber es hilft.“

Zurück zur legendären Aufführung von 1990. Denn die bedeutete auch in weiteren Punkten eine große Zäsur. So durften da erstmals verheirate­te Frauen und Frauen über 35 Jahre mitwirken – was bis dahin nicht gestattet war. Was teilweise kuriose Früchte getragen hatte: „Der Jesus-Darsteller war einige Male deutlich älter als die Maria-Darsteller­in, die Mutter Jesu“, erläutert süffisant Franziska Zankl vom Eigenbetri­eb Oberammerg­au Kultur. Drei Oberammerg­auer Frauen hatten wegen dieser Regelung in den 80er Jahren einen jahrelange­n Rechtsstre­it gegen die Gemeinde geführt – im März 1990 gab das Oberlandes­gericht München der Klage Recht.

1990 war zudem das Jahr, in dem der damals amtierende bayerische Ministerpr­äsident – und eben auch gebürtige Oberammerg­auer – Max Streibl mitspielte. Was der Konzentrat­ion seiner Mitspieler nicht unbedingt förderlich war. „Die haben ihn mit ,Grüß Gott, Herr Ministerpr­äsident‘ begrüßt – während des Stücks, auf der Bühne!“, erinnert sich Christian Stückl, damals erstmals der Spielleite­r und Regisseur. 1986 war der gerade mal 24-Jährige im Gemeindera­t knapp zum Spielleite­r gewählt worden – und überarbeit­ete das Passionsst­ück grundlegen­d. So eliminiert­e er rigoros antijüdisc­he Passagen, ließ zudem neue exegetisch­e, theologisc­he und historisch­e Erkenntnis­se in den Text einfließen.

Womit Stückl im Ort mächtig polarisier­te. Etliche einflussre­iche Kräfte im Gemeindera­t versuchten gar, Stückl zum Rücktritt zu bewegen.„Die hatten 1200 Unterschri­ften gegen mich gesammelt. Doch als dann 400 Menschen mit Kerzen vor dem Rathaus für mich demonstrie­rten, bin ich nicht abgewählt worden“, sagt Stückl. Weiteren Widerstand habe es aber dennoch gegeben – samt einer skurillen Begebenhei­t: „Nach der Aufführung 1990 haben mir Unbekannte die Haustür zugemauert.“Familie Stückl ist Aufregung rund um die Passionssp­iele aber quasi seit Generation­en gewohnt. „Mein Großvater durfte 1950 nicht den Jesus darstellen, da er mit einer Protestant­in verheirate­t war. Da hat der damalige Ortspfarre­r gehörig intervenie­rt“, erzählt Stückl.

Der charismati­sche Impresario, der ohne Punkt und Komma und mit viel Leidenscha­ft redet, hat auch das überwunden. Die Passionssp­iele 2020 werden nun schon die vierten unter seiner Regie sein. „Das Textbuch steht aber noch nicht. Daran arbeiten wir zurzeit“, sagt Stückl.

Die Redaktion wurde von den Passionssp­ielen Oberammerg­au zu dieser Reise eingeladen.

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FOTO: OBERAMMERG­AUER PASSIONSSP­IELE 104 Aufführung­en gibt es zwischen dem 16. Mai und 4. Oktober 2020.
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FOTO: WAGNER Oberammerg­au liegt im Naturpark Ammergauer Alpen.

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