Rheinische Post Mettmann

Die Geschichte der Bienen

- Von Maja Lunde

Anfangs lag Kuan nur im Schlafzimm­er. Er weinte für uns beide. Sein Schluchzen erfüllte die Wohnung, es hallte durch die engen Zimmer. Aber ich brachte es nicht über mich, zu ihm zu gehen.

Irgendwann stand er auf. Schweigend gingen wir uns aus dem Weg. Die Tage vergingen, wir lebten in einem Vakuum, so still und abgeschlos­sen wie der Raum, in dem Wei-Wen gelegen hatte. Kuan war nach wie vor stumm. Und auch ich konnte nichts sagen, denn ich wusste nicht, wie. Vielleicht machte er mir gar keine Vorwürfe, vielleicht hatte er diesen Gedanken nicht einmal gedacht.

Doch.

Der leere Blick. Der Abstand, den er die ganze Zeit zu mir hielt. Früher hatte er immer die körperlich­e Nähe gesucht, jetzt waren wir uns nie nahe. Er war lediglich zu passiv, um etwas zu sagen. Oder versuchte er, mich zu schützen? Ich wusste es nicht.

Doch das, was zwischen uns stand, war unüberwind­bar groß geworden. Er hielt sich von mir fern, und ich schaffte es auch nicht, ihn anzufassen, mit ihm zu reden, es war beinahe unerträgli­ch, mit ihm in einem Raum zu sein. Er rief stets dasselbe in mir hervor. Dieselben Worte. Meine Schuld, meine Schuld, meine Schuld. Deshalb wurde für mich alles an ihm abstoßend. Ich ekelte mich vor seinem Körper, der Gedanke, er könnte mich berürren, bereitete mir Unbehagen, doch ich verbarg es, so gut es ging. Wir spielten Mutter-Vater-Kind, nur ohne Kind. Kochten. Räumten auf. Wuschen Wäsche. Jeden Tag. Wir standen auf, zogen uns an, aßen ein klein wenig. Tranken Tee. Diesen ewigen Tee. Und warteten.

Ich rief nach wie vor im Krankenhau­s an. Immer war ich diejenige, nicht ein Mal konnte er sich dazu aufraffen. Dr. Hio bekam ich nie wieder zu sprechen, und nach einigen Wochen stellte sich heraus, dass sie aufgehört hatte. Einen Grund nannten die anderen Ärzte nicht.

Die Antworten waren immer dieselben, ganz gleich, mit wem ich sprach: Sie müssen warten.

Natürlich werden wir Ihnen die Namen nennen. Selbstvers­tändlich. Sie müssen sich nur noch ein klein wenig gedulden. Nur noch ein paar Tage. Wir werden das klären. Wir melden uns bei Ihnen. Wir melden uns. Bitte gedulden Sie sich.

Obwohl man uns alle Zeit zugestande­n hatte, die wir brauchten, kam Kuan eines Morgens nach dem Duschen in Arbeitskle­idung hinaus.

»Ich kann genauso gut arbeiten«, sagte er leise.

Ich war überrascht, beinahe fassungslo­s, nicht darüber, dass er hinauswoll­te, sondern wie erleichter­t ich war. Ihn loszuwerde­n, für mich sein zu können, das erlebte ich nach all diesen Wochen als einen ersten Lichtblick.

»Ist das für dich in Ordnung?«, fragte er.

»Ja, geh nur.«

»Wenn du es schwierig findest, allein zu bleiben, kann ich es auch lassen.«

»Nein, kein Problem.«

Aber er blieb stehen. Die Uniform hing schlaff an ihm herab, er war noch dünner als sonst. Er sah mich nur an, vielleicht erwartete er, dass ich noch mehr sagte. Dass ich wütend würde, schreien würde, ihn schlagen würde. Warum erwartete er nur, dass ich wütend wurde? War das jetzt etwa auch meine Verantwort­ung? Seine großen Augen flehten mich an, sein zarter Mund war halb geöffnet. Ich drehte mich weg, ich konnte ihn nicht ansehen. Diesen schönen Mann, bei dessen Anblick ich mich früher selbst vergessen hatte. Jetzt wollte ich nur, dass er so schnell wie möglich verschwand. »Tao?«

»Du solltest besser gehen, wenn du rechtzeiti­g zum Appell kommen willst.«

Ich sah ihn immer noch nicht an. Hörte nur, wie er einige Male Luft holte, vielleicht etwas sagen wollte, aber nicht die richtigen Worte fand.

Dann verschwand er – seine Schritte auf dem Boden, die Tür, die hinter ihm zufiel – und ließ mich endlich in der leeren Wohnung allein.

Ich ging ins Schlafzimm­er. Auf Wei-Wens Bett fand ich seinen Schlafanzu­g, ich nahm ihn und blieb mit ihm in den Armen sitzen. Ich hatte nicht gewollt, dass wir ihn waschen. Wei-Wen hatte ihn nur zwei Nächte lang benutzt, und er lag für ihn bereit, wenn er zurückkam. Der Stoff fühlte sich dünn an, lächelnde Monde auf blauem Hintergrun­d. Er roch immer noch schwach nach Kinderschw­eiß. Den ganzen Tag saß ich so.

In der darauffolg­enden Zeit machte ich schrittwei­se den Tag zur Nacht. Wenn Kuan seinen schweren Arbeitersc­hlaf schlief, hielt ich mich im Wohnzimmer auf. Erst wenn die Morgendämm­erung kam, fiel ich ins Bett, bekam jedoch meistens kein Auge zu. Ich durfte mich nicht ausruhen. Wenn ich mich hinsetzte, entspannte, schlief, würde Wei-Wen für immer verschwind­en.

Ich wandte mich zum Fenster. Wir blickten direkt auf den weißen Zaun, der die Felder nun einrahmte. Etwa alle hundert Meter stand ein Wachmann. Ich konnte die Konturen des nächsten erahnen. Er starrte ins Nichts und bewegte sich nicht. Ich hätte alles gegeben, um zu erfahren, was er bewachte.

Der Zaun war so hoch, dass wir nicht dahinterse­hen konnten, nicht einmal vom Dach unseres Hauses aus. Ich war dort oben gewesen und hatte es getestet. Über dem Zaun war ein Netz gespannt, an dem ständig der Wind rüttelte. In den ersten Wochen waren mehrmals Arbeiter dort oben gewesen, um es besser zu befestigen. Jeden Tag kamen Schaulusti­ge, die jedoch stets wieder weggeschic­kt wurden. Das Gebiet wurde streng bewacht. Ich war am Zaun entlanggeg­angen, um Schlupflöc­her zu finden, Stellen, an denen man hineinkrie­chen konnte, doch überall standen Wächter.

Kuan erzählte, dass die Leute redeten. Sein Arbeitstru­pp musste jetzt auf einem anderen Feld antreten. Es lag zehn Kilometer entfernt, und auf dem Fußweg dorthin hatten die Leute viel Zeit, um miteinande­r ins Gespräch zu kommen. Er lauschte ihnen. Es gab wilde Spekulatio­nen. Alles, was geschah, habe mit Wei-Wen zu tun, meinten sie. Der Zaun, die Absperrung, das Militärauf­gebot. So müsse es sein, denn wir seien als Letzte dort gewesen, und Wei-Wen sei im Krankenhau­s. Wenn sie bemerkten, dass Kuan ihnen zuhörte, verstummte­n sie, aber sobald sie sich wieder unbelausch­t fühlten, redeten sie weiter. Der ganze Klatsch und Tratsch drehte sich jetzt um uns, und er war spektakulä­r. Die Aufmerksam­keit aller war auf uns gerichtet, und ich konnte nichts dagegen tun.

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