War Opa ein Nazi?
Die Bürgerbühne beschäftigt sich in „Blick zurück nach vorn“mit der Erinnerungskultur in Düsseldorfer Familien – und wird persönlich. Angehörige erzählen, wie sie das Schweigen brechen und Lücken in ihrer Familienchronik füllen.
Politik und Religion gehören nicht an den Küchentisch. Mit diesem Spruch wurden in Marlenes Familie schwierige Diskussionen aus dem privaten Kreis verbannt. Doch jetzt sitzt Marlene Natus, 81, auf der kleinen Bühne im Schauspielhaus an einem riesigen, grauen Küchentisch und muss sich Fragen gefallen lassen: Was der liebe Onkel Paul im Krieg gemacht habe, will ihre Tochter wissen. Wo war er denn genau? Was hat er erzählt? Die Tochter ist wütend, die Leerstellen in der Familienbiografie belasten sie. Doch die Mutter hebt nur die Schultern. Man sprach nicht darüber. Und nun ist es zu spät. Onkel Paul ist tot, hat seine Erinnerungen, seelischen Verletzungen, seine Schuld mitgenommen – und all die ungestellten Fragen zurückgelassen.
Die Bürgerbühne beschäftigt sich in ihrem aktuellen Stück „Blick zurück nach vorn“mit dem Erinnern und Schweigen in Familien – und zwar konkret am Beispiel von elf Menschen aus Düsseldorf. Zu Beginn sind sie lauter Einzelne, die Fotos zeigen, Biografisches erzählen vom Vater, der Kaffeehaus-Geiger war und unter Druck in die Partei eintrat, von der Mutter, die gern sang, Sport trieb, im „Bund deutscher Mädel“Führerin wurde und auch nach dem Krieg darauf bestand, sie habe damals „ein schönes Leben“gehabt. Von der Angst in Schutzkellern ist die Rede, von zerstörten Häusern am Friedensplätzchen, von Bombenangriffen auf Derendorf. Düsseldorfer Geschichten.
Allmählich stellt sich heraus, dass die Menschen auf der Bühne teils miteinander verwandt sind – und dass unterschiedliche Erinnerungsbedürfnisse für Spannungen sorgen zwischen den Generationen, auch zwischen Ehepartnern. Willi Mannheim etwa hat einen 20 Jahre älteren Bruder, für ihn eine Vaterfigur, der eine Hitler-Eliteschule besuchte. Mannheim kann damit leben, dass sein Bruder bis heute mit vielen Auslassungen von damals erzählt und sich in Verharmlosungen zu retten versucht. Seine Frau Elke Fricke dagegen will das nicht durchgehen lassen. Sie kennt diese Verklärungen von ihrer Mutter, hat unter deren eisernem Erziehungsstil gelitten und will die Dinge beim Namen nennen. Auf der Bühne kommen die Konflikte auf den Tisch. Die Mitspieler beeindrucken durch ihre
Offenheit. Und es wird klar, was die Nachkommen antreibt: Sie wollen ein „gerechtes“Bild von ihren Verwandten, spüren, wie das Unausgesprochene die Erinnerungen vergiftet. Außerdem teilen sie eine Furcht: dass sich Rassenwahn und Kriegsbegeisterung wiederholen könnten, wenn in Familien nicht offen über Schuld und Verantwortung gesprochen wird.
Regisseur Christof Seeger-Zurmühlen und und seine Dramaturgin Juliane Hendes haben eine Fülle familiärer Erinnerungen klug verdichtet und geben den Bürgern Raum, von ihrem Hader, aber auch von anrührenden Momenten mit dem „weichen Vater“oder der lebensfrohen „Zucker-Omi“zu erzählen. So geht es an diesem Abend nicht um Abrechnung, sondern um die Bedeutung des Erinnerns. Auch eine Profi-Schauspielerin steht auf der Bühne: Hanna Werth ist Mitglied des Schauspielhaus-Ensembles, macht aber als Düsseldorfer Bürgerin mit. Und hat eine wichtige Geschichte beizutragen, denn Mitglieder ihrer Familie waren hochrangige Mitarbeiter des Nazi-Verwaltungsapparats. Ihrem Großvater rettete das nach einer schweren Verwundung das Leben, auch wenn er wenige Jahre nach dem Krieg an den Folgen starb. So muss die Enkelin damit leben, dass es sie nicht gäbe, hätte sich die Generation ihrer Großeltern nicht in das Nazi-Regime verstrickt.
Die Inszenierung arbeitet solche Ambivalenzen heraus und schafft eine Atmosphäre, in der offen
über Schuld nachgedacht werden kann. Wie im Titel angekündigt, soll es dann aber auch noch um das „nach vorn“gehen, um die Lehren für die Zukunft. Dafür ist einmal Marina Feldker auf der Bühne, 27, die im Emsland aufgewachsen ist und deren Familie aus Vietnam kommt. In einem sarkastischen Solo bringt sie den Alltagsrassismus von heute ins Spiel. In einem Filmeinspieler kommt Oded Horowitz zu Wort, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Düsseldorf, der berichtet, wie sich das Klima für Juden in Deutschland verschlechtert hat und viele nicht mehr unbesorgt hierzulande leben. Und auf der Bühne lässt es Mitspieler Armin-Laszlo Halbach, 24, keine Ruhe, dass sein früherer Geschichtslehrer inzwischen für die AfD im NRW-Landtag sitzt. Halbach trifft sich mit ihm und erzählt, wie sie sich unter anderem über die Singularität deutscher Schuld auseinandergesetzt haben. Der Abend erfährt da einen Bruch, weil es plötzlich um eine Partei geht und von dem Gespräch nur berichtet wird. Da wird das komplexe Thema Rechtspopulismus zu stark verkürzt. Doch wird auch deutlich, dass Schweigen nicht nur ein Thema der Nachkriegszeit ist, sondern, dass es auch heute Themen gibt, zu denen nicht schweigen darf, wer die Vergangenheit ernstnimmt.
Am Ende senken sich Familienfotos über die Szene. Das Publikum ist eingeladen, eigene Erinnerungen mit den Leuten von der Bürgerbühne zu teilen. Im Theater ist ein Raum entstanden, in dem das Gespräch am Küchentisch möglich ist. Auch über heikle Themen. Über die besonders.