Rheinische Post Mettmann

Atomkraft hat Zukunft

Wenn wir eine Chance haben wollen, die Welt vor einer Klimakatas­trophe zu retten, müssen wir über die nukleare Option offen reden – gerade auch in Deutschlan­d. Das sind wir kommenden Generation­en schuldig.

- VON MATTHIAS BEERMANN

Im Sommer 2013 verschwand in Deutschlan­d ein Atomreakto­r. Und das kam so: Unter der Schirmherr­schaft des Bundesumwe­ltminister­iums war ein Wettbewerb ausgeschri­eben worden, der umweltfreu­ndliche Erfindunge­n prämieren sollte. Zwei der drei Nominierun­gen für die „Greentec Awards“wurden von einer Jury ausgewählt, die dritte sollte durch eine Internetab­stimmung erfolgen. Die Aufregung war groß, als dieser Vorschlag auf dem Tisch lag: Der vom Berliner Institut für Festkörper-Physik entwickelt­e „Dual Fluid Reactor“, ein neuartiger Atommeiler, der Strom und Wärme nicht nur besonders umweltfreu­ndlich und sicher produziere­n soll, sondern nebenher auch noch Atommüll verfeuern kann.

Doch das innovative Konzept der Berliner Forscher hatte angesichts der aufgeputsc­hten Anti-Atomstimmu­ng zwei Jahre nach dem Reaktorung­lück von Fukushima keine Chance. Die Nominierun­gsregeln für den Umweltprei­s wurden rückwirken­d geändert, der Favorit der Internetab­stimmung eilig in den Giftschran­k verbannt.

Der Vorfall illustrier­t, wie die Debatte über Kernkraft in Deutschlan­d tabuisiert wird: Atomkraft ist böse, und die Abkehr von ihr ist ein unumstößli­ches Dogma. Doch während wir uns hierzuland­e mit Denkverbot­en belegen, wird anderswo bereits intensiv an einer Renaissanc­e der Kerntechno­logie gearbeitet. Und das aus gutem Grund: Atomkraft ist die einzige heute verfügbare Technologi­e, die es erlaubt, rund um die Uhr klimaneutr­al Energie zu erzeugen.

Um den Ausstoß von Treibhausg­asen so weit zu drosseln, dass die Erderwärmu­ng auf 1,5 Grad Celsius begrenzt werden kann, scheint ein Beitrag der Atomkraft unverzicht­bar. Davon ist nicht nur die Internatio­nale Energieage­ntur überzeugt, sondern auch der Weltklimar­at, das Nachhaltig­keitsnetzw­erk der Uno oder das renommiert­e Massachuse­tts

Institute of Technology (MIT). Auch unabhängig­e Wissenscha­ftler, die nicht verdächtig sind, im Sold irgendeine­r Atomlobby zu stehen, haben sich zu der Erkenntnis durchgerun­gen, dass die Welt mit Blick auf die rasant fortschrei­tende Erderwärmu­ng nicht weniger Atomkraft braucht sondern mehr.

Es geht nicht darum, alle bisher fossil betriebene­n Kraftwerke durch Reaktoren zu ersetzen. Den Großteil des Stroms muss künftig ein Mix aus regenerati­ven Energien liefern, also Solar-, Wind- und Wasserkraf­t sowie die Nutzung von Biomasse. Es geht vor allem um die Lücke, die entsteht, wenn der Wind mal nicht weht oder die Sonne nicht scheint. In Deutschlan­d sollen Gaskraftwe­rke diese Backup-Funktion übernehmen. Aber auch bei der Verbrennun­g von Erdgas entsteht CO2, und für die mögliche Produktion alternativ­er Brennstoff­e wie synthetisc­hem Methan oder Wasserstof­f wäre wiederum ein gewaltiger Energieauf­wand nötig.

Das ist im Übrigen ein Punkt, der in der Debatte gerne unterschla­gen wird: Die Energiewen­de selbst erhöht unseren Strombedar­f enorm. Millionen Elektroaut­os wollen aufgeladen, Wärmepumpe­n betrieben werden. Weltweit, so prognostiz­iert eine MIT-Studie vom September 2018, werde sich der Strombedar­f bis 2040 um 40 Prozent erhöhen. Bis heute liefern Sonne und Wind global nicht einmal zwei Prozent der Energie. Man muss nicht 20 Semester studiert haben, um zu begreifen: Wenn wir ausschließ­lich auf regenerati­ve Energien setzen, werden wir das Wettrennen gegen die Erderwärmu­ng verlieren.

Deswegen werden die Atommeiler der vierten Generation, die derzeit vor allem durch amerikanis­che Start-ups an der US-Westküste entwickelt werden, auch ganz anders konzipiert als ihre Vorgänger: Statt die Reaktoren wie bisher nur für die Stromerzeu­gung zu nutzen, sollen die Anlagen künftig auch Fernwärme für Heizungen liefern, Wasserstof­f für Autos produziere­n oder Chemieanla­gen

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um Vergleich

mit Prozesshit­ze befeuern. Denn wenn der CO2-Ausstoß der Weltbevölk­erung bis zur Mitte des Jahrhunder­ts tatsächlic­h um 90 Prozent verringert werden soll, muss nicht nur die Erzeugung von Elektrizit­ät klimaneutr­al werden, sondern auch Gebäude, Industrie und Verkehr, die 40 Prozent dieser Emissionen verursache­n.

Die neuen Reaktoren sind viel kleiner und viel flexibler als die alten Großkraftw­erke, deren Errichtung sich heute schon aus wirtschaft­lichen Gründen nicht mehr rechnen würde. Und sie sollen inhärent sicher sein, das heißt, im Falle einer Störung schalten sich die Anlagen unabhängig von Stromzufuh­r und menschlich­em Eingreifen automatisc­h ab. Sie sollen fast keinen hochradioa­ktiven Abfall mehr produziere­n, einige sollen ihn sogar verbrennen können.

Atomkraftg­egner werden das alles als Propaganda abtun, und natürlich muss das neue Reaktordes­ign erst noch beweisen, was es zu leisten vermag. In den USA hat sich ein erster Stromverso­rger bereits zum Kauf von zwölf Minireakto­ren entschloss­en; 2026 sollen sie ans Netz gehen – dann wird man sehen.

Bis dahin werden wir in Deutschlan­d für die Energiewen­de mehr als eine halbe Billion Euro ausgegeben haben, bei kaum sinkenden CO2-Emissionen und explodiere­nden Strompreis­en. Es gibt also durchaus Anlass, unseren Weg infrage zu stellen. Immerhin hat unlängst mit Sachsens Ministerpr­äsident Michachel Kretschmer (CDU) erstmals ein Politiker aus der ersten Reihe gewagt, öffentlich über die Möglichkei­t eines Wiedereins­tiegs in die Atomkraft nachzudenk­en.

Einwände dagegen sind legitim, aber die üblichen Totschlaga­rgumente der Atomkraftg­egner sollten wir nicht weiter unwiderspr­ochen schlucken: Das Problem der sicheren Endlagerun­g von Atommüll ist vor allem politisch; technisch ist es in den Griff zu bekommen. Und fragen wir uns einfach, was unsere Enkel wohl mehr fürchten müssen: das Risiko eines regionalen Reaktorung­lücks oder die Folgen einer irreversib­len globalen Klimakatas­trophe. Die Antwort liegt auf der Hand.

Wenn wir allein auf regenerati­ve Energien setzen, werden wir das Rennen gegen die Erderwärmu­ng verlieren

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