Atomkraft hat Zukunft
Wenn wir eine Chance haben wollen, die Welt vor einer Klimakatastrophe zu retten, müssen wir über die nukleare Option offen reden – gerade auch in Deutschland. Das sind wir kommenden Generationen schuldig.
Im Sommer 2013 verschwand in Deutschland ein Atomreaktor. Und das kam so: Unter der Schirmherrschaft des Bundesumweltministeriums war ein Wettbewerb ausgeschrieben worden, der umweltfreundliche Erfindungen prämieren sollte. Zwei der drei Nominierungen für die „Greentec Awards“wurden von einer Jury ausgewählt, die dritte sollte durch eine Internetabstimmung erfolgen. Die Aufregung war groß, als dieser Vorschlag auf dem Tisch lag: Der vom Berliner Institut für Festkörper-Physik entwickelte „Dual Fluid Reactor“, ein neuartiger Atommeiler, der Strom und Wärme nicht nur besonders umweltfreundlich und sicher produzieren soll, sondern nebenher auch noch Atommüll verfeuern kann.
Doch das innovative Konzept der Berliner Forscher hatte angesichts der aufgeputschten Anti-Atomstimmung zwei Jahre nach dem Reaktorunglück von Fukushima keine Chance. Die Nominierungsregeln für den Umweltpreis wurden rückwirkend geändert, der Favorit der Internetabstimmung eilig in den Giftschrank verbannt.
Der Vorfall illustriert, wie die Debatte über Kernkraft in Deutschland tabuisiert wird: Atomkraft ist böse, und die Abkehr von ihr ist ein unumstößliches Dogma. Doch während wir uns hierzulande mit Denkverboten belegen, wird anderswo bereits intensiv an einer Renaissance der Kerntechnologie gearbeitet. Und das aus gutem Grund: Atomkraft ist die einzige heute verfügbare Technologie, die es erlaubt, rund um die Uhr klimaneutral Energie zu erzeugen.
Um den Ausstoß von Treibhausgasen so weit zu drosseln, dass die Erderwärmung auf 1,5 Grad Celsius begrenzt werden kann, scheint ein Beitrag der Atomkraft unverzichtbar. Davon ist nicht nur die Internationale Energieagentur überzeugt, sondern auch der Weltklimarat, das Nachhaltigkeitsnetzwerk der Uno oder das renommierte Massachusetts
Institute of Technology (MIT). Auch unabhängige Wissenschaftler, die nicht verdächtig sind, im Sold irgendeiner Atomlobby zu stehen, haben sich zu der Erkenntnis durchgerungen, dass die Welt mit Blick auf die rasant fortschreitende Erderwärmung nicht weniger Atomkraft braucht sondern mehr.
Es geht nicht darum, alle bisher fossil betriebenen Kraftwerke durch Reaktoren zu ersetzen. Den Großteil des Stroms muss künftig ein Mix aus regenerativen Energien liefern, also Solar-, Wind- und Wasserkraft sowie die Nutzung von Biomasse. Es geht vor allem um die Lücke, die entsteht, wenn der Wind mal nicht weht oder die Sonne nicht scheint. In Deutschland sollen Gaskraftwerke diese Backup-Funktion übernehmen. Aber auch bei der Verbrennung von Erdgas entsteht CO2, und für die mögliche Produktion alternativer Brennstoffe wie synthetischem Methan oder Wasserstoff wäre wiederum ein gewaltiger Energieaufwand nötig.
Das ist im Übrigen ein Punkt, der in der Debatte gerne unterschlagen wird: Die Energiewende selbst erhöht unseren Strombedarf enorm. Millionen Elektroautos wollen aufgeladen, Wärmepumpen betrieben werden. Weltweit, so prognostiziert eine MIT-Studie vom September 2018, werde sich der Strombedarf bis 2040 um 40 Prozent erhöhen. Bis heute liefern Sonne und Wind global nicht einmal zwei Prozent der Energie. Man muss nicht 20 Semester studiert haben, um zu begreifen: Wenn wir ausschließlich auf regenerative Energien setzen, werden wir das Wettrennen gegen die Erderwärmung verlieren.
Deswegen werden die Atommeiler der vierten Generation, die derzeit vor allem durch amerikanische Start-ups an der US-Westküste entwickelt werden, auch ganz anders konzipiert als ihre Vorgänger: Statt die Reaktoren wie bisher nur für die Stromerzeugung zu nutzen, sollen die Anlagen künftig auch Fernwärme für Heizungen liefern, Wasserstoff für Autos produzieren oder Chemieanlagen
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um Vergleich
mit Prozesshitze befeuern. Denn wenn der CO2-Ausstoß der Weltbevölkerung bis zur Mitte des Jahrhunderts tatsächlich um 90 Prozent verringert werden soll, muss nicht nur die Erzeugung von Elektrizität klimaneutral werden, sondern auch Gebäude, Industrie und Verkehr, die 40 Prozent dieser Emissionen verursachen.
Die neuen Reaktoren sind viel kleiner und viel flexibler als die alten Großkraftwerke, deren Errichtung sich heute schon aus wirtschaftlichen Gründen nicht mehr rechnen würde. Und sie sollen inhärent sicher sein, das heißt, im Falle einer Störung schalten sich die Anlagen unabhängig von Stromzufuhr und menschlichem Eingreifen automatisch ab. Sie sollen fast keinen hochradioaktiven Abfall mehr produzieren, einige sollen ihn sogar verbrennen können.
Atomkraftgegner werden das alles als Propaganda abtun, und natürlich muss das neue Reaktordesign erst noch beweisen, was es zu leisten vermag. In den USA hat sich ein erster Stromversorger bereits zum Kauf von zwölf Minireaktoren entschlossen; 2026 sollen sie ans Netz gehen – dann wird man sehen.
Bis dahin werden wir in Deutschland für die Energiewende mehr als eine halbe Billion Euro ausgegeben haben, bei kaum sinkenden CO2-Emissionen und explodierenden Strompreisen. Es gibt also durchaus Anlass, unseren Weg infrage zu stellen. Immerhin hat unlängst mit Sachsens Ministerpräsident Michachel Kretschmer (CDU) erstmals ein Politiker aus der ersten Reihe gewagt, öffentlich über die Möglichkeit eines Wiedereinstiegs in die Atomkraft nachzudenken.
Einwände dagegen sind legitim, aber die üblichen Totschlagargumente der Atomkraftgegner sollten wir nicht weiter unwidersprochen schlucken: Das Problem der sicheren Endlagerung von Atommüll ist vor allem politisch; technisch ist es in den Griff zu bekommen. Und fragen wir uns einfach, was unsere Enkel wohl mehr fürchten müssen: das Risiko eines regionalen Reaktorunglücks oder die Folgen einer irreversiblen globalen Klimakatastrophe. Die Antwort liegt auf der Hand.
Wenn wir allein auf regenerative Energien setzen, werden wir das Rennen gegen die Erderwärmung verlieren