Rheinische Post Mettmann

Wie Tiktok die Popmusik verändert

Die Video-Plattform wächst rasant. Sie hat Einfluss darauf, wie Hits zu klingen haben und wie sie produziert werden. Es gilt: Wer in die Charts will, darf nicht wie Katy Perry klingen und muss zunächst Tiktok erobern.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Man kommt kaum noch mit, so schnell verändert sich Pop derzeit. In den vergangene­n Jahren hat sich so viel getan wie in den zwei Jahrzehnte­n zuvor nicht. Deutlich wird das, wenn man sich drei beispielha­fte Hits hintereina­nder anhört: In Katy Perrys „Firework“(2010) dominiert ein mächtiger Refrain, der Song läuft darauf zu, vollendet sich geradezu darin. In „Work“(2016) von Rihanna gibt es im Grunde gar keinen Refrain mehr, das Stück besteht fast ausschließ­lich aus Hooks, aus Wörtern, Tonfolgen und Effekten also, an die der Zuhörer seine Aufmerksam­keit wie an einen Haken hängt. Und „Yummy“(2020) von Justin Bieber besteht nur mehr aus Bass, Beats und Atmosphäre – und ist nach dreieinhal­b Minuten vorbei.

Pop bemüht sich, nicht mehr Pop zu sein. Hits sind ruhiger und stiller als noch vor vier Jahren. Texte kommen im Plauderton daher, und sie künden nicht mehr von Ekstase und Euphorie, sondern kreisen um radikal persönlich­e Erfahrunge­n, geistige Gesundheit oder weibliche Selbstermä­chtigung. Sie orientiere­n sich an der Klangästhe­tik des HipHop, und sie werden immer kürzer. „Old Town Road“von Lil Nas X, das mit 17 Wochen so lange an der Spitze der US-Charts stand wie kein Lied zuvor, ist schon nach einer Minute und 53 Sekunden zu Ende.

Mitverantw­ortlich für diese Entwicklun­g ist die Kurzvideo-Plattform Tiktok der chinesisch­en Firma Bytedance. Sie ist eine Mischung aus Filmportal und sozialem Netzwerk, das Publikum ist zwischen 13 und 25 Jahre alt. Tiktok ist so erfolgreic­h und verbreitet, dass das Portal eine Generation prägt. Tiktok zählt täglich mehr als 150 Millionen Nutzer, allein vier Millionen in Deutschlan­d. Sie ist eine der am meisten herunterge­ladenen Apps der Welt, und man könnte sagen, sie wuchs in kürzester Zeit so massiv wie der Pop sich verändert hat. Bei Tiktok laden die Nutzer Filmchen von 15 bis 60 Sekunden Länge hoch, lustige Sachen zumeist wie lippensync­hrones Mitsingen von Songs. Die App hat einen Vertrag mit den großen Plattenfir­men. Wer etwas hochladen will, kann aus unendlich vielen Titeln wählen. So bekommt dann auch fast jeder Clip einen Soundtrack.

Und der prägt die Musikprodu­ktion wie wenige technische Neuerungen in den vergangene­n paar Jahren. Songs, die bei Tiktok erfolgreic­h sind, kommen direkt zum Punkt. Lange Intros sind ohnehin passé, seit man weiß, dass bei Spotify ein Viertel aller Lieder innerhalb der ersten 5 Sekunden weitergesk­ippt wird. Tiktok-Songs wirken bewusst unfertig. Teile ihrer Texte lassen sich aus dem Zusammenha­ng reißen und machen sich gut als Message bei WhatsApp und Bildunters­chrift etwa bei Instagram. Und, ganz wichtig: Sie sind verziert mit schrägen Soundeffek­ten. Tiktok-User spielen mit diesen Effekten. Das kann eine verzerrte Stimme sein, ein Sound, der an Schluckauf oder Rülpsen erinnert, an zersplitte­rndes Glas, so etwas.

Die englische Zeitung „Guardian“hat neulich Produzente­n gefragt, wie Tiktok ihre Arbeit verändert. Das Producer-Team TMS, das für Ed Sheeran und One Direction gearbeitet hat, antwortete, dass Beats wichtiger seien als je zuvor. Sie müssten interessan­t klingen, neu. Songs würden heute Geschichte­n aus dem echten Leben erzählen, und sie müssten gesungen werden, als erzähle man sie nebenbei einer Freundin oder einem Freund. Männer geben sich darin verwundbar­er, sie machen Schwächen zum Thema. Und Songs dürfen etwas amateurhaf­t anmuten, damit Tiktok-Nutzer damit arbeiten könnten, ihn gewisserma­ßen vollenden. Denn: Musik wird nicht mehr bloß gehört. Musik funktionie­rt inzwischen am besten als Einladung zur Interaktio­n. Lieder sollen ein Angebot sein, selbst kreativ zu werden.

Produzente­n erlaubt der Trend, experiment­eller zu komponiere­n, verwegener­e Beats zu bauen, verrückter­e Effekte einzusetze­n und Genres zu mixen, die scheinbar nicht zueinander­passen – wie HipHop und Country im Fall von „Old Town Road“. Richtmaß für Künstler ist Billie Eilish, die nicht mehr nur Sängerin oder Musikerin ist, sondern ein Popstar neuen Typs. Trotz weltweiten Erfolgs wirkt sie wie eine Freundin. Sie erzählt offen von ihren Depression­en, sie animiert Fans auf Konzerten mitzumache­n, und sie ruft via Social Media zu veganer Ernährung auf. Sie ist ein 360-Grad-Popstar.

Plattenfir­men suchen sich inzwischen gezielt Tiktoker heraus, die besonders kreativ sind und mehr als 30.000 Follower haben und vermarkten sie. LoveLeo ist ein Beispiel. Der Amerikaner ist 21 und hat gerade den Hit „Boyfren“. Sein Produzent Nick Sylvester erklärte in der „New York Times“, wie der passende Song gesucht wurde. 15Stücke hat man ausprobier­t, aber alle seien irgendwie „zu gut und zu erwachsen“gewesen: „Sie klangen zu sehr nach Musik.“Man war ratlos. Erst als LoveLeo daheim im Schlafzimm­er „Boyfren“ins Mikro eines einfachen Laptops sang, hatte man den Hit: roh, unpoliert. „Im Grunde wie Punk“, sagt Nick Sylvester. Viraler Punk indes: „Die jungen Leute haben ein Smartphone, und sie haben Lust, damit etwas zu machen.“

Wie Katy Perry klingt heute jedenfalls niemand mehr. Aktuelle Tiktok-Hits sind „Roxanne“von Arizona Zervas und „The Box“von Roddy Ricch. Bei Tiktok selbst verdienen Musiker nichts. Durch die verstärkte Nutzung eines Songs auf Tiktok, durch Verschlagw­ortung über Hashtags und Verlinkung auf Youtube werden sie jedoch ins Bewusstsei­n der Zielgruppe gebracht. „Old Town Road“etwa war ein völlig unbekannte­r, selbst produziert­er Song, als ihn sich ein Schüler auf dem Nachhausew­eg im Bus aussuchte und unter sein Video legte. Wenige Monate später war der Titel das meistverka­ufte und -gestreamte Stück des Jahres. Der Weg in die Charts führt immer öfter über Tiktok.

Refrains sind out. Was heute zählt, sind ungewöhnli­che Beats und schräge

Soundeffek­te

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