Corona bedroht Chinas Mächtige
Während die Infiziertenzahlen in China drastisch ansteigen, müssen Spitzenpolitiker in der Provinz ihren Job quittieren. Gesundheitsexperten warnen jedoch weiter vor übertriebener Panik.
PEKING Es war nur mehr eine Frage der Zeit, bis die politische Säuberungswelle in China losgehen würde. Auch zeichnete sich bereits ab, dass es als erstes Opfer den Bürgermeister von Wuhan treffen würde, gefolgt vom Chef der umliegenden Provinz Hubei. Die dortigen Parteikader hatten aus Angst vor Konsequenzen mehrere Wochen lang versucht, den Coronavirus zu verheimlichen.
Schließlich beseitigte die Zentralregierung in Peking die führenden Köpfe auf Stadt- und Provinzebene – und tauschte sie unter anderem durch den ehemaligen Bürgermeister Schanghais aus, der als politischer Ziehsohn von Präsident Xi Jinping gilt. Das Kalkül hinter der prominent in den Staatsmedien berichteten Maßnahme: Peking möchte die Schuldfrage beim Virusausbruch vor allem auf der Ebene der Lokalregierung belassen.
Doch das könnte schiefgehen. Denn die Krise dürfte auch die Führung in Peking in Bedroullie bringen. Schließlich befindet sich das Land noch immer im Stillstand: Zwar wurden einige Fabriken mittlerweile wieder eröffnet, um die Unterbrechung von Lieferketten in Grenzen zu halten und die Versorgung medizinischer Ausrüstung zu gewährleisten. Doch viele Schulen und Universitäten, der Dienstleistungssektor generell und auch viele mittelständische Betriebe sind nach wie vor geschlossen. Vor allem die Verdienstausfälle für die Abermillionen Landarbeiter dürften für Unmut und Frust sorgen.
Doch auch die anhaltende Quarantäne zehrt an den Nerven der Menschen. Die drastischsten Einschränkungen hat die Stadt Shiyan in der Provinz Hubei ausgegeben: Dort dürfen sämtliche Bewohner bis auf einige Ausnahmen nicht einmal mehr ihre Wohnungen verlassen. Solche Maßnahmen können auch als vorauseilender Gehorsam der Lokalregierung verstanden werden, die verordnete Virusbekämpfung von Peking sehr ernst zu nehmen.
Vor allem die Lage in Hubei scheint immer bedrohlicher zu werden. Nur Stunden vor dem politischen Köpferollen vermeldeten die Gesundheitsbehörden eine Hiobsbotschaft: 14.840 Menschen sollen sich innerhalb der letzten 24 Stunden mit dem Erreger infiziert haben – also fast zehnmal so viel wie noch am Tag zuvor. Dabei flackerte in der vergangenen Woche noch die Hoffnung auf, die Wachstumskurve des Virusausbruchs würde allmählich abflachen.
Trotzdem warnen viele Experten auch anlässlich der neuen Zahlen vor Panik. Schließlich hängt der massive Anstieg an Infizierten vor allem mit einer geänderten Zählweise in der Provinz Hubei zusammen. „Die Entscheidung macht in der jetzigen Situation sehr viel Sinn“, sagt Benjamin Cowling, Epidemiologe der Universität
Hongkong. Wissenschaftlich würden bei Epidemien zwischen drei Kategorien an Patienten unterschieden werden: Verdachtsfälle, wahrscheinliche Fälle und klinisch bestätigte Fälle. Seit Donnerstag würden nun auch sämtliche wahrscheinlichen Fälle zu der Gruppe der Infizierten hinzuaddiert. Denn immer mehr Bewohner Wuhans, die sich ganz offensichtlich angesteckt haben, zeigten negative Resultate bei den verwendeten Tests, was wiederum deren Glaubwürdigkeit infrage stellte. „Noch besser wäre es, wenn die genauen Kriterien für die einzelnen Kategorien der chinesischen Regierung auch publiziert werden“, meint Cowling.
Und er bringt auch das Problem auf den Punkt. „Die Schlüsselfrage, die uns beschäftigt, ist die, wie schwerwiegend das neue Coronavirus tatsächlich ist“, sagt der Forscher. Als Vergleichswert ziehen Experten das SARS-Virus zurate. Dessen Übertragungsrate war vergleichsweise gering, dafür löste es gesundheitlich starke Schäden aus hat: Praktisch jeder Infizierte musste während der Epidemie 2002 und 2003 in ein Krankenhaus eingeliefert werden, die Sterblichkeit lag bei knapp zehn Prozent. Auf dem entgegengesetzten Ende der Skala rangiert die herkömmliche Grippe, die hochansteckend ist, doch abseits von Ausnahmefällen nur milde Symptome verursacht. „Unserer Einschätzung nach liegt das neue Coronavirus ungefähr in der Mitte zwischen diesen Extremen“, sagt Cowling.
Sein Kollege John Nicholls, ebenfalls von der Universität Hongkong, hat als Pathologe einst bei der Isolierung des SARS-Erregers mitgeholfen. Er meint: „Wir sehen hier nur die Spitze des Eisbergs. Letztlich haben wir keinen blassen Schimmer über die tatsächliche Anzahl an Infizierten, weil eine Dunkelziffer von Patienten nur leichte Symptome zeigt und nicht getestet wurde.“
Auch wenn die beiden Mediziner grundsätzlich zufrieden sind mit der Informationspolitik der chinesischen Behörden, bleiben doch viele Fragen unbeantwortet – etwa, warum sich am Coronavirus bislang derart viele Krankenhausmitarbeiter angesteckt haben. Die Behörden in Wuhan hielten diese Statistik unter Verschluss, doch die Hongkonger Zeitung „South China Morning Post“hat jetzt veröffentlicht, dass sich allein in Wuhan bis Mitte Januar über 500 Krankenpfleger und Ärzte angesteckt hätten und weitere 600 als Verdachtsfälle gelistet würden. Dies deutet darauf hin, dass der Erreger von den Medizinern zu Beginn der Epidemie für weniger gefährlich eingeschätzt wurde, als er tatsächlich ist. Zudem arbeiten die Krankenhausmitarbeiter unter körperlicher Erschöpfung, was auch die Immunabwehr schwächt.
Die Krankenhäuser wurden von der chinesischen Regierung angeordnet, die Anzahl angesteckter Angestellten nicht zu veröffentlichen. Der Grund dafür dürfte sein, die Moral der unter immensem Arbeitsdruck stehenden Mediziner nicht weiter zu schwächen. Bereits vergangene Woche ist mit dem als „Whistleblower“bekannten Doktor Li Wenliang ein 33-jähriger Arzt an dem Virus gestorben, was unter der chinesischen Bevölkerung nicht nur Trauer, sondern auch Wut gegen die Behörden ausgelöst hat. Li hatte als erster vor den Gesundheitsrisiken eines neuen SARS-ähnlichen Virus gewarnt, wurde aber von den Behörden zum Schweigen gezwungen.
Wie nervös die chinesische Regierung ist, zeigt auch die Festnahme zweier Bürgerjournalisten in Wuhan: Diese hatten unter anderem Videoaufnahmen von Krankenhäusern veröffentlicht, auf denen auf Gängen herumliegende Leichensäcke zu sehen waren. Zunächst wurden die beiden nur verhört, nun aber sollen sie laut Medienberichten festgenommen sein.