In zehn Videos durch 1000 Jahre Klassik
Eine persönliche Youtube-Bestenliste aus zehn Jahrhunderten Musikgeschichte – vom gregorianischen Choral bis in die Moderne.
DÜSSELDORF Die Klassik wurde nie erfunden, sie war immer da – in Kirchen, auf Märkten, beim Adel, irgendwann in Theatern, Konzertsälen und heimischen Wohnzimmern. Dort, in der eigenen guten Stube, kann man derzeit mangels öffentlicher Alternativen die ganze Welt der Klassik erleben und dabei den Musikern zusehen. Wir haben zehn Musterbeispiele kostenfreier Youtube-Videos ausgesucht, mit denen sich trefflich durch die Jahrhunderte reisen lässt. Gesamtdauer: acht Stunden, 45 Sekunden.
Gregorianischer Choral, „Christus factus est“
Vor einigen Jahren gab es ein leichtes Beben, weil die Welt auf einmal gregorianischen Choral liebte, gesungen von Zisterzienser-Mönchen aus der Abtei Heiligenkreuz bei Wien, die mit ihrer CD „Chant – Music for paradise“eine gottgefällige Nische entdeckten. Im Internet sind singende Mönche eine Rarität, meistens sieht es aus wie mystischer „Name der Rose“-Nebel. Aber immerhin kann man die Zisterzienser aus dem Wienerwald auch sehen.
(Suche: „Heiligenkreuz Choral Christus factus est“; Dauer: 2:31)
Claudio Monteverdi, „Marienvesper“
Der Londoner Monteverdi Choir, den John Eliot Gardiner gründete, macht seinem Namensgeber in einem hinreißenden Konzertmitschnitt alle Ehre. Im Jahr 1990 führten die Musiker Claudio Monteverdis „Marienvesper“im Markusdom zu Venedig auf. Dieses Gipfelwerk aus dem frühen 17. Jahrhundert lebt von seinen reichen harmonischen Wendungen, seiner polyphonen Maserung und vor allem seiner kunstvollen Architektur. Der Mitschnitt lässt uns staunen, wie der Kirchenraum selbst zum Musikinstrument wird.
(Suche: „Claudio Monteverdi Marienvesper John Eliot Gardiner San Marco“; Dauer 1:30:45)
Johann Sebastian Bach, „Goldberg-Variationen
Dieses Meisterwerk angewandter Kombinatorik, in dem sämtliche musikalische Kniffelkästchen ausgefüllt sind, kann man sich mit vielen Pianisten vorstellen – an Glenn Gould führt kein Weg vorbei. Mehrfach hat der kanadische Pianist Bachs Zyklus aufgenommen. Die späte Einspielung ist meditativ, perspektivisch, von Erfahrung grandios gesättigt. Die Videobilder zeigen
Das Hagen-Quartett spielt Mozart 1998 in Salzburg
Vincent Warnier in Saint-Sulpice (Paris)
Gould in seinem Element: den Tasten so nah wie kein anderer Pianist, mitsummend, mit reichem Mienenspiel. Der schönste Bach der Welt.
(Suche: „Glenn Gould Goldberg-Variationen 1981“; Dauer: 12:51)
Wolfgang Amadeus Mozart, Streichquartett Nr. 16 Es-Dur Dieses Werk ist eine Wucht, und es gibt ein herrliches Video, bei dem ein ganzer Saal seine Begeisterung gleichsam mitatmend artikuliert. 1998 spielte das Hagen-Quartett Mozarts Streichquartett Nr. 16 EsDur im großen Saal des Salzburger Mozarteums, es war eine Sternstunde der Kammermusik. Mozarts geistvolle Gesprächigkeit wird von den Musikern (darunter die drei Geschwister Veronika, Lukas und Clemens
Das Trio Istomin-Stern-Rose spielt Brahms
Hagen) herrlich umgesetzt. Und weil die vier Musiker alle aus Salzburg stammen, hatte sie mit Musik des Salzburger Mozarts das perfekte Heimspiel.
(Suche: „Mozart Streichquartett 16 Hagen Mozarteum“; Dauer: 30:25)
Ludwig van Beethoven,
3. Sinfonie Es-Dur („Eroica“) Michael Gielen zählte immer zu den „schwierigen“Dirigenten. Wenig Show, viel Sachlichkeit, herbe Gesinnung, kaum Ausstrahlung. Gielen galt als unzugänglich. Das war eine Fehldeutung: In Wahrheit war er voll mit Herzlichkeit, die er vielleicht im Alltag nicht so gut zeigen konnte – in der Musik aber schon. Seine Aufführung der „Eroica“mit dem früheren SWR-Symphonieorchester ist
Simon Rattle dirigiert Musik von György Ligeti
von dynamischer Strenge, hat aber auch Momente des Heiteren. Beethovens Metronomangaben befolgt er weitgehend.
(Suche: „Beethoven Eroica Gielen SWR“; Dauer: 47:00)
Johannes Brahms, Klaviertrio H-Dur
Es gibt Videos, von denen man nicht glaubt, dass sie überhaupt im Internet vorkommen. Diese Aufnahme von Brahms‘ herrlichem frühen Klaviertrio H-Dur ist so eine. Sie entstand 1974 in Paris, es musizieren Eugene Istomin (Klavier), Isaac Stern (Violine) und Leonard Rose ( Violoncello). Die Kameraführung ist für heutige Begriffe vorsintflutlich, trotzdem ist das ein Meilenstein-Mitschnitt. Man spürt die ungeheure Konzentration der drei Musiker, die sich in einer exorbitanten Ausdruckslust entlädt.
(Suche: „Brahms Trio H-Dur Istomin Stern Rose“; Dauer: 33:53)
Richard Wagner,
„Das Rheingold“
Viele Leute scheuen vor Wagner zurück, weil er ihnen „zu schwer“erscheint und weil sie Probleme mit dem seltsamen Text haben. Wie wäre es, wenn es im Internet eine Partitur gäbe, die parallel zur Musik mitläuft? Diese Version gibt es: Georg Soltis wunderbare Einspielung mit den Wiener Philharmonikern (und George London als Wotan) gibt es bei Youtube mit Partitur, die sich von selbst weiterblättert. Endlich versteht man jedes Wort, weil man es gedruckt vor sich sieht. So bekommen auch blutige Laien Zugang zum Bayreuther Meister.
(Suche: „Wagner Rheingold Solti Full Score“; Dauer: 2:25:46)
Gustav Mahler,
3. Symphonie d-Moll
Als der Dirigent Claudio Abbado im Jahr 2002 mehr oder weniger freiwillig von den Berliner Philharmonikern Abschied nahm, fand er in Luzern alsbald ein prachtvolles Asyl. Mit ausgesuchten Musikern im dortigen Lucerne Festival Orchestra gab es herrliche Möglichkeiten, die von höchster musikalischer Klasse und vor allem von Freigeistigkeit, nicht von Engstirnigkeit geprägt waren. Im August 2007 dirigierte er Gustav Mahlers 3. Symphonie d-Moll, und wenn es in der Musik Augenblicke gibt, die man nie vergisst, dann ist es der Finalsatz und die schier unendliche Stille nach dem Schlussakkord, bis endlich der Applaus einsetzt.
(Suche: „Mahler Abbado 3. Symphonie Lucerne“; Dauer: 1:35:56)
György Ligeti, „Atmosphères“
Eines Tages nahm die Musik Abschied von den Notenlinien – zwar nicht so ganz, aber in „Atmosphères“perforiert das System. Das Orchester bildet riesige Tontrauben, die schwirren, oszillieren, anschwellen und verlöschen. Das Werk gilt als Schlüsselwerk der Neuen Musik und wurde durch den Film „2001: Odyssee im Weltraum“berühmt. Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern ist eine großartige Aufnahme geglückt, die auch kameratechnisch den Aspekt der sogenannten Mikropolyphonie abbildet.
(Suche: „György Ligeti Atmosphères Rattle“; Dauer: 8:57)
Maurice Duruflé, „Prélude et fugue sur le nom d’Alain“
Wer je die Cavaillé-Coll-Orgel in der Pariser Kirche Saint-Sulpice gehört hat, möchte vorerst keiner anderen Königin der Instrumente mehr begegnen. Sie ist keine Brüllmaschine, sondern eine überaus reichhaltige Farbpalette. Im Tutti ist das Instrument voluminös, es zwingt einen in die Knie, aber es vergewaltigt einen nicht. Vincent Warnier ist vor einigen Jahren eine exemplarische Aufnahme von Maurice Duruflés Meisterwerk „Prélude et fugue sur le nom d’Alain“gelungen. Köstlich, wie Daniel Roth, der berühmte Hausorganist von Saint-Sulpice, seinem Kollegen Warnier (der in St. Étienne-du-Mont wirkt) assistiert.
(Suche: „Duruflé Warnier Sulpice“; Dauer: 12:41)