Auf dem Prüfstand
Krisen lassen Schwächen und Stärken wie unter einem Brennglas deutlich werden. So kann selbst die Corona-Pandemie zu einer Chance werden, wenn wir aus ihr lernen. Aber bitte mit kühlem Kopf.
Einmal im Jahr, wenn die Vereinten Nationen zur Generalversammlung rufen, finden sich vor dem UN-Gebäude am New Yorker East River stets auch einige skurrile Untergangspropheten ein. Mit Plakaten stehen sie da, manche mit Megafonen, sie kündigen das Ende der Welt an, mahnen zu Buße und Umkehr. Solche Predigten kann man derzeit überall hören und vor allem lesen. Da haben einige die Corona-Krise als willkommenen Hebel entdeckt, um den Wandel der Gesellschaft in ihrem Sinne zu erzwingen. Im Angesicht des Virus wird bußfertig Besserung gelobt. Als wüsste man schon ganz genau, welche Lehren man aus dieser Krise zu ziehen habe, als stünde schon ganz genau fest, wie die Pandemie die Welt nachhaltig verändern werde. Dabei wissen wir ja noch nicht einmal, ob und wann es gelingen mag, die unmittelbare Bedrohung durch den tückischen Erreger zu bändigen.
Es ist ja gar nicht falsch, schon jetzt an die Konsequenzen zu denken, die wir möglicherweise aus dieser Krise und ihrer Entstehung ziehen sollten. Aber für Gewissheiten ist es noch zu früh. Wir haben in Wirklichkeit erst damit begonnen, aus den Erfahrungen zu lernen, die wir erst noch machen werden. Die Krise wirkt wie ein Brennglas, sie zerrt bestehende Missstände, Probleme und Ungleichheiten übergroß vor Augen. Trotzdem ist damit noch lange nicht gesagt, dass wir daraus auch die richtigen Schlüsse ziehen. Wir sollten diese Pandemie, so gravierend sie auch sein mag, nicht als Menetekel überzeichnen. Sondern sie lieber kühl analysieren.
Das beginnt schon mit dem Auslöser der aktuellen weltweiten Verwerfungen, einer Virusübertragung vom Tier auf den Menschen, einer sogenannten Zoonose. Naturschützer haben unter dem Eindruck der Pandemie anklagend darauf hingewiesen, dass solche unheilvollen Begegnungen immer wahrscheinlicher werden, je stärker die Menschheit auch in die wenigen bislang noch unberührten Gebiete unseres Planeten vordringt. Gewiss, unser skandalöser Raubbau an der Natur und das erschütternde Artensterben sind gewaltige Probleme, und sie verdienen es, dass man sie endlich ernst nimmt. Aber der wahre Brandbeschleuniger in dieser Krise war ein anderer Faktor: die in den vergangenen Jahren geradezu explodierte Mobilität der Menschheit.
Erst der moderne Flugverkehr lässt die Möglichkeit, dass sich ein hochansteckendes Virus innerhalb von 48 Stunden auf der ganzen Welt verbreitet, praktisch zur Gewissheit werden. Mehr als 200.000 Flüge rund um den Globus an einem einzigen Tag wurden schon registriert. Eine Zahl, die deutlich macht, wie wenig sich mit den klassischen Methoden der Seuchenbekämpfung ausrichten lässt, wenn Dutzende Millionen Menschen zwischen den Kontinenten pendeln. Es wird bereits an technischen Lösungen gearbeitet, zum Beispiel der Desinfektion der Atemluft in Flughäfen durch UVLicht, aber es spricht vieles dafür, dass die Corona-Erfahrung die ursprünglichen Wachstumserwartungen der Luftfahrtbranche für die kommenden Jahrzehnte zur Makulatur macht. Und wohl auch unsere Reisegewohnheiten, sei es zu beruflichen oder zu privaten Zwecken.
Man liest viel dieser Tage von neuen Lebensmodellen, vom Rückzug in kleinere Einheiten, ins Regionale und Lokale. Bedeutet diese Krise das Ende der Globalisierung, wie einige schon frohlocken? Nein, aber sie wird den schon seit der Finanzkrise von 2008 zu beobachtenden Trend verstärken, einige ihrer wirtschaftlichen Aspekte zurückzudrehen. Wir haben in den vergangenen Wochen gelernt, dass die Herstellung bestimmter Güter im eigenen Land große Vorteile haben kann. Darauf werden einige Unternehmen in Deutschland reagieren, sie werden versuchen, sich weniger abhängig von ausländischen
Lieferketten zu machen. Damit die Kosten dabei nicht aus dem Ruder laufen, werden die Automatisierung und der Einsatz von Robotern vorangetrieben werden. Auch die Digitalisierung der Wirtschaft dürfte durch die Krise noch einmal kräftig Schub bekommen.
Viele Unternehmen werden den Corona-Schock wohl nicht überleben. Aber die Wirtschaft insgesamt kann sogar gestärkt aus der Krise hervorgehen, wenn sie ihr Geschäftsmodell jetzt konsequent auf den Prüfstand stellt. Denn die Krise überschneidet sich mit einer Phase fundamentaler technischer Umbrüche. Wir stehen an der Schwelle zu einer neuen industriellen, einer digitalen Revolution. Die meisten der neuen Technologien sind schon wettbewerbsfähig, sie müssen und sollten daher nicht subventioniert werden. Aber man kann ihren Durchbruch jetzt weiter beschleunigen, indem der Staat kluge Rahmenbedingungen setzt.
Also: weder Abwrackprämien für Autos noch für Ölheizungen und auch keine von irgendwelchen Lobbys geschriebenen, mit dem Etikett „Klima“versehenen Konjunkturprogramme, die nur bestimmte Techniken der CO2-Reduzierung favorisieren. Dafür aber massive Investitionen in Forschung und gleichzeitig ein ambitionierterer Preis für den Ausstoß von CO2 – so ließe sich Innovation in allen Bereichen der Wirtschaft stimulieren und gleichzeitig der Klimaschutz fördern.
Krisensituationen entfesseln eine Dynamik, in der das vorher Undenkbare plötzlich möglich scheint. Vor allem aber wirken sie als Katalysator für bereits laufende Entwicklungen. Das gilt leider im Guten wie im Schlechten. So könnte sich auch der Trend zum Protektionismus weiter verstärken, obwohl diese Pandemie doch zeigt, dass wir international statt Konfrontation eigentlich mehr Kooperation bräuchten. Diese Krise bedeutet nicht den großen Bruch, von dem die Untergangspropheten reden, und auch nicht den großen Wendepunkt für die Menschheit, von dem einige träumen. Aber sie bietet durchaus die Möglichkeit, ein paar Weichen neu zu stellen. Und das ist ja schon etwas.