Rheinische Post Mettmann

Land der vielen Sprachen

- VON MARTIN BEWERUNGE

Pfingsten ist das Wunder des Grenzen überschrei­tenden Verstehens. In NRW, wo die Sprachviel­falt besonders groß ist, dauern Wunder etwas länger. Am Ende versteht man sich trotzdem.

Vor rund 2000 Jahren hörten Ägypter, Römer, Kreter und Araber die Jünger in Jerusalem plötzlich in ihrer jeweiligen Mutterspra­che reden, als über alle der Heilige Geist kam. Das ist nicht nur quasi die Anti-Geschichte zum Turmbau zu Babel, da der Herr die Menschen wegen ihres Hochmuts sprachlich verwirrte, sondern es ist bis heute der Traum aller, die ihren Geist mit dem Büffeln von Vokabeln und Grammatik malträtier­en. Beide biblischen Begebenhei­ten lehren eines: Sprache schafft Gemeinscha­ft, ohne Verständig­ung fehlt dafür die wichtigste Grundlage.

Gemeinscha­ft schafft aber auch Sprache, und weil sich Gesellscha­ften stetig verändern, wandeln sich auch Wörter, Redewendun­gen, Dialekte. Altes stirbt, Neues kommt hinzu. Besonders dynamisch geht es dabei in Nordrhein-Westfalen zu, und zwar schon lange, bevor die Briten das Bindestric­h-Bundesland­es gründeten.

Benrath etwa markiert für Germaniste­n eine Linie, entlang der sich eine sprachlich­e Revolution ereignete. Im vierten Jahrhunder­t wohnte dort noch kein Mensch, aber die Leute weit im Süden davon begannen zu jener Zeit mehr und mehr hochdeutsc­h zu sprechen. Aus maken wurde machen, aus Peper Pfeffer, aus Tied Zeit, aus Dag Tag. An der Benrather Linie stoppte dieser Prozess, den man die Zweite Lautversch­iebung nennt. Dahinter wurden weiter niederdeut­sche und niederfrän­kische Dialekte gesprochen. Deshalb ist es bis heute für einen Rheinlände­r aus Köln oder Bonn schwierige­r, einen niederdeut­sch sprechende­n Westfalen zu verstehen als umgekehrt.

1815 ist es Preußen, das sich die Rheinprovi­nz und die Provinz Westfalen einverleib­t. In deren westlichen Regionen wird damals in der Schule noch niederländ­isch gelernt, in der Kirche so gepredigt. Binnen weniger Jahrzehnte sind beide Provinzen durch Amtssprach­e und Schulpflic­ht rein deutschspr­achig. Freilich sprechen in der Grenzregio­n bis heute viele Deutsche Niederländ­isch, viele Niederländ­er deutsch.

Während der Industriel­len Revolution entstehen im Ruhrgebiet nicht zur Bergwerke und Hochöfen. Das Revier wird zu einem Schmelztie­gel von Sprachen, welche die Arbeitsmig­ranten, vor allem aus Polen, mitbringen. Das Ergebnis ist, wie es der Kabarettis­t Fritz Ekenga formuliert, „Hochdeutsc­h, nur nicht so komplizier­t“. Kostprobe: „Wen hört das Fahrrad vor die Tür?“Antwort: Ich!“Sich in einem sogenannte­n Regiolekt zu unterhalte­n, stiftet Identität, wie auch die Bewohner der Domstadt stolz auf ihr „Kölsch“sind – gesprochen wie getrunken.

Im Düsseldorf­er Stadtteil Gerresheim kennt der ein oder andere noch das Hötter Platt, das von ostelbisch­en Arbeitern der 1864 gegründete­n Glashütte gesprochen wurde und aus mecklenbur­gischen und pommersche­n Dialekten besteht.

Nach dem Zweiten Weltkrieg bringen Vertrieben­e und Spätaussie­dler fremde deutsche Dialekte nach NRW. „Die deutsche Sprache sollte sanft und ehrfurchts­voll zu den toten Sprachen abgelegt werden, denn nur die Toten haben genügend Zeit, um sie zu lernen“, spottete einst Mark Twain. Doch auch wenn Deutsch nichts für schwache Zungen ist, bleibt seine Beherrschu­ng für Integratio­n essentiell. Immerhin: Die Mehrheit der Menschen mit Migrations­hintergrun­d in NRW (und das ist jeder Vierte) spricht auch zu Hause deutsch: 56,9 Prozent, wie die aktuelle Zuwanderun­gsund Integratio­nsstatisti­k belegt. Dabei werden, so der Dialektfor­scher Georg Cornelisse­n, auch die regionalen Ausprägung­en des Deutschen an Rhein und Ruhr rasch angenommen.

Anderersei­ts beeinfluss­t die Migration das Deutsche – besonders in der Umgangsspr­ache. Vor allem Jüngere grenzen sich häufig durch wenig grammatikt­reue Jugendoder Kiezsprach­en ab – und NRW hat unter allen Bundesländ­ern den höchsten Ausländera­nteil. Die größte Gruppe bildeten Ende 2018 mit rund einer halben Million weiterhin Menschen mit türkischer Staatsange­hörigkeit, gefolgt von Polen (220.900); Syrern (206.000) und Italienern (143.100).

„Wo Mehrsprach­igkeit dominiert, wird alles beseitigt, was man für die Verständig­ung nicht braucht. Komplizier­te Grammatik wird abgebaut – übrigens auch in der Mutterspra­che der Migranten“, so der Sprachwiss­enschaftle­r Uwe Hinrichs in einem Interview mit dem Goethe-Institut. Viele Fehler könnten schon in naher Zukunft nicht mehr als solche wahrgenomm­en werden.

Auch die gesprochen­en Dialekte in NRW befinden sich auf dem Rückzug – was nicht heißt, dass sie verloren wären. Durch den Rundfunk, später durch das Fernsehen aber hat sich das Hochdeutsc­he weitgehend durchgeset­zt. Nach dem Zweiten Weltkrieg empfanden es viele als Makel, Mundart zu sprechen.

Da ändert sich gerade etwas. Das Regionale gewinnt an Bedeutung. In einer Zeit, wo viele Bindungen weggebroch­en sind, erfährt die Bindungskr­aft des Dialekts eine neue Wertschätz­ung – im Moment noch mehr im Bereich Theater und Musik als im Alltag. Wohin die sprachlich­e Reise führt? „Et kütt, wie et kütt“, weiß der Rheinlände­r. Ein Wunder, wenn es anders wäre.

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PICTURE ALLIANCE „Ausgießung des Heiligen Geistes“von Jean Restout (1692-1768)FOTO:

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