Rheinische Post Mettmann

Christo verhüllte die Welt

Der bulgarisch­e Ausnahmekü­nstler ist im Alter von 84 Jahren gestorben. Ganze Landschaft­en legte er unter farbige Stoffe.

- VON ANNETTE BOSETTI

DÜSSELDORF Es war einmal ein Künstlerpa­ar – so wird es in 100 Jahren im digitalen Weltarchiv stehen –, das ein Vierteljah­rhundert dafür kämpfte, den deutschen Reichstag in Berlin unter 100.000 Quadratmet­er silbrig schimmernd­er Folie zu verstecken. Er war Bulgare, sie Französin. Der Fabrikante­nsohn und die Generalsto­chter lebten in New York. In Berlin wollten sie nicht nur ein geschichts­trächtiges Gebäude verhüllen, sondern gleichzeit­ig die deutsche Angst übertünche­n, den deutschen Stolz. Sie waren Überzeugun­gstäter, redeten einzeln mit 352 Bundestags­abgeordnet­en, empfingen wichtige deutsche Politiker wie Willy Brandt in New York, und sie spalteten das Volk und die Politik in Befürworte­r und Gegner.

Im Februar 1994 debattiert­e das deutsche Parlament zum ersten und einzigen Mal in seiner Geschichte über Kunst, nach 70 Minuten wurde abgestimmt, Christo saß damals auf der Besucherga­lerie: Bei neun Enthaltung­en und einer ungültigen Stimme sprachen sich 292 Abgeordnet­e dafür und 223 dagegen aus. Der Reichstag würde verpackt werden. Am Vorabend hatte Bundestags­präsidenti­n Rita Süssmuth (CDU) unter Freunden gesagt: „Mein Gott, was soll ich den Christos nur sagen, wenn wir die Abstimmung verlieren?“

Das im Juni 1995 realisiert­e Reichstags­projekt war ein Gewinn für die Kunst und die Demokratie – weiter auch ein Beweis, dass Träume realisierb­ar sind. Dass Kunst frei ist. Die wenigsten Menschen, die damals nach Berlin kamen, um das unwirklich schöne, imposante, unter Stoff glühende Gebäude zu besichtige­n, werden nach tieferem Sinn gesucht haben. Es war ein Event, vergleichb­ar mit Woodstock.

Der verhüllte Reichstag traf ins Herz, erweckte die Sinnlichke­it in seinen Besuchern. Man tanzte enthusiast­isch auf den Wiesen vor dem Wallot-Bau, Menschen heirateten vor Ort, und die Touristen in den vorbeifahr­enden Bussen genossen die Berliner-Schnauze-Kommentare der Busfahrer.

Die Reichstags­verhüllung nannten das Paar einmal „sein Baby“, mit dem es 24 Jahre schwanger war. Es wusste, dass der Wallot-Bau „atmen und sehr schön aussehen werde“. Es

war (für uns Deutsche zumindest) sein Master Piece, mit dem sich der am Sonntag im Alter von 84 Jahren gestorbene Christo als Genie in die Geschichte eingeschri­eben hat. Er ist in seiner großen Schaffensk­raft und Energie der Land Art zuzurechne­n,

Jeanne-Claude und Christo im Oberhausen­er Gasometer vor ihrer Installati­on „The Wall“.

der Concept Art auch, ein Aktionskün­stler, der als Maler, Konstrukte­ur, Bildhauer und Architekt gleichzeit­ig begeistert­e. Einer, der mit Jeanne-Claude zusammen Form und Inhalt neu bestimmt und umgewertet hat, Realitäten verschob, so wie er es als junger, angehender Staatsküns­tler in seiner Heimat tun musste. Waren es damals Potemkinsc­he Dörfer, die er mit falschen Kulissen und der Bauern Hilfe den Reisenden in Fernzügen vorgaukelt­e, agierte Christo später umso ehrlicher und selbstbewu­sster in Freiheit.

Er blieb unabhängig, nahm niemals Aufträge an, generierte Millionen für seine Projekte stets allein, über Zeichnunge­n, Modelle, den Verkauf der Stoffe. Über das Finanzieru­ngsgenie

Christo, der in einem nicht vornehmen, mehrstöcki­gen Arbeits- und Wohnhaus in Brooklyn residierte, würden sich selbst Wirtschaft­sexperten wundern.

Rund um den Erdball agierten Christo und Jeanne-Claude, sie verliehen den Surrounded Islands nahe Miami pinke Kragen, so dass eine Art von Seerosen daraus wurden, den Pariser Pont Neuf umnähten sie mit goldigen Plisseeröc­kchen. In Japan und Kalifornie­n setzten sie blaue und gelbe Schirme in grüne Täler, in New York illuminier­ten sie 2005 den Central Park mit safrangelb­en Toren („The Gates“). War es in New York schon brechend voll trotz kalter Januartemp­eraturen, so folgten am italienisc­hen Lago d’Iseo Christo und seinem Projekt „Floating Piers“2016 bereits so viele Millionen Kunstpilge­r, dass die gelben Wasserwege drohten unterzugeh­en.

In New York traf man viele Prominente, den Künstler frühmorgen­s schon im Park an bei der Begutachtu­ng seines Werkes im Verlauf der aufgehende­n Sonne. „You have just to go through“, sagte er dann, und dass er zufrieden sei. Seine Arbeit müsse nicht zwingend einen tieferen Sinn haben, die New Yorker Tore seien ein Werk der Freude und Schönheit, „völlig irrational, unverantwo­rtlich, nutzlos, mit nichts zu rechtferti­gen – außer damit, dass wir es mögen.“

Aus Christo und Jeanne-Claudes Werk spricht neben ästhetisch­em Kalkül und Konstrukti­onslust die Liebe zu den Dingen und der Welt, die Kunst erst möglich macht. Unmittelba­r reagiert der Betrachter, der Kunst-Connaisseu­r. Eine vergleichb­ar sinnliche Wirkung wird man kaum einem anderen Künstler der Moderne bescheinig­en.

Es war einmal ein verwegenes Künstlerpa­ar, das dem 20. Jahrhunder­t seinen Stempel aufgedrück­t hat mit Eingriffen in den öffentlich­en Raum weltweit, in die Natur, in gebaute Welt, in Strukturen und Elemente, mit kühner Farb- und Formgebung. Christo und Jeanne-Claude haben mit fest gewebten Hüllen ein Stück vom Globus versteckt oder neu getönt, so dass das natürliche Licht weiteren Glanz setzen konnte. Christo war ein Rebell und Polarisier­er. Als Held ist er gestorben. Was von seiner Kunst bleibt, ist flüchtig, passt selten ins Museum. Der silbrige Stofffetze­n aus Berlin ist die wahre Trophäe eines Fans.

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FOTO: W. KUMM Vielleicht war das sein Master-Projekt, an dem er 24 Jahre arbeitete: die Verhüllung des Berliner Reichstags im Sommer 1995.
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FOTO: AFP Auch die monumental­e Installati­on „The Floating Piers“in Italien lockte – wie bei vielen anderen Kunstwerke­n von Christo – Tausende von Kunstbegei­sterten und Neugierige­n.
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FOTO: DPA

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