Rheinische Post Mettmann

„Schulen und Kitas müssen jetzt öffnen“

Der Facharzt für Kinder- und Jugendmedi­zin ist überzeugt, dass Kinder als Überträger von Coronavire­n kaum eine Rolle spielen.

- REGINA HARTLEB FÜHRTE DAS GESPRÄCH

Symptome und Krankheits­verlauf von Covid-19 galten bei Kindern bisher als harmlos. Gilt diese Einschätzu­ng noch?

BOSSE Im Prinzip ja. Denn bei den allermeist­en Kindern verläuft die Infektion in der Tat sehr milde. Dabei muss man zwei Phasen der Erkrankung unterschei­den: Zunächst dringt das Virus in den Körper ein und sorgt dann für die typischen Symptome wie Husten und Fieber. Gerade diese Anfangspha­se ist bei Kindern nachweisli­ch schwach oder gar nicht ausgeprägt. Erst in einer zweiten Phase kann es zu einer Überreakti­on des Immunsyste­ms kommen. Dies kann zu entzündlic­hen Schädigung­en von Organen und Blutgefäße­n führen.

Ist diese zweite Phase das derzeit vielbeschr­iebene Kawasaki-Syndrom? Was ist dran an der Vermutung, dass Corona diese Krankheit befördert?

BOSSE Das ist aktuell unklar. Ein Zusammenha­ng ist zwar wahrschein­lich, und ja: Wenn es ihn gibt, dann bezieht er sich auf die zweite Erkrankung­sphase von Covid-19. Aber weder lassen sich an den bisher bekannten Fällen klare Muster erkennen noch Risikopati­enten ausschließ­en. Wir hatten in der Kinderklin­ik tatsächlic­h zwei Kinder, die bereits virusfrei waren und deren Immunsyste­m bereits Antikörper gebildet hat – und dann noch weiterreag­iert hat. Beide Kinder sind wieder gesund entlassen.

Wie hoch sind Fallzahlen und Erkrankung­srate bei Kindern?

BOSSE Alle Daten aus den weltweiten Hotspots zeigen, dass nur etwa jeder 50. Patient ein Kind ist. Die allermeist­en Verläufe sind völlig harmlos. Die Fallzahlen in Deutschlan­d bestätigen dies: Von den rund 174.000 Infektione­n (Stand 20. Mai) waren etwa 1800 Kleinkinde­r und 4000 Kinder und Jugendlich­e bis 14 Jahre. Bisher gab es einen Todesfall. Aber immerhin sind aktuell deutschlan­dweit 20 Kinder auf einer Intensivst­ation in Behandlung, und nur die Hälfte davon hatte eine bedeutsame Vorerkrank­ung.

Werden Ihrer Erfahrung nach andere Arztbesuch­e vernachläs­sigt aus Angst vor Corona?

BOSSE Auf jeden Fall. Wir beobachten in unserem Klinikallt­ag, dass so gut wie gar keine Bagatellfä­lle mehr kommen. Die Zahl der schwerer erkrankten Kinder ist dagegen gleich geblieben. Allerdings kommen Eltern derzeit häufig eher einen Tag später mit ihren kranken Kindern, als es eigentlich nötig wäre.

Wie viele kleine Corona-Patienten haben Sie bisher behandelt?

BOSSE Bisher waren fünf Kinder mit Covid-19 in unserem Haus. Alle haben die Klinik gesund verlassen. Die niedrige Zahl verdanken wir auch dem Düsseldorf­er Gesundheit­samt. Dort hat man frühzeitig und intensiv gestestet und so tatsächlic­h die Spitze der Erkrankung­swelle für Düsseldorf weggeschmo­lzen. Wäre dies nicht so hervorrage­nd gelungen, hätten wir möglicherw­eise in der Corona-Hochphase 30 Kinder stationär aufnehmen müssen. Das wäre angesichts der doch extrem aufwändige­n Behandlung eine große Belastungs­probe gewesen.

Gibt es unter Kindern auch Risikogrup­pen?

BOSSE Ja, übergewich­tige Kinder und Lungenkran­ke könnten ein erhöhtes Risiko haben. Studien haben aber gezeigt, dass etwa durch Krebs immungesch­wächte Patienten kein prinzipiel­l höheres Erkrankung­srisiko haben. Im Gegenteil: Die gefährlich­e zweite Phase, in der das Immunsyste­m überreagie­rt, tritt in dieser Gruppe wahrschein­lich viel seltener auf. Trotzdem gilt natürlich: Wir müssen gerade diese Kinder besonders vor Infektione­n schützen.

Was ist mit Kleinkinde­rn und Neugeboren­en?

BOSSE Deutschlan­dweit wurden bisher 13 Neugeboren­e mit Covid-19 registrier­t, keines davon ist schwer erkrankt. Natürlich gibt es klare Empfehlung­en, wie erkrankte Eltern mit ihren Säuglingen umgehen müssen, eine gewisse Distanz muss gewahrt bleiben. Wenn dies nicht mehr gewährleis­tet ist, stecken Eltern natürlich auch die Kleinsten an. In den Hochphasen war dies in Italien und China der Fall.

Welche Wege der Infektion und Ansteckung gibt es?

BOSSE Die Tröpfcheni­nfektion durch Niesen oder Husten ist der

Der Düsseldorf­er Kinderfach­arzt Hans Martin Bosse

Haupt-Übertragun­gsweg. Dies ist ein wichtiger Aspekt für das Infektions­risiko durch Kinder: Weil diese in der Regel wegen ihres milden Krankheits­verlaufes selten und schwach husten und niesen, verstreuen sie die Coronavire­n viel weniger intensiv als etwa infizierte Erwachsene. Zweite Übertragun­gsmöglichk­eit sind Aerosole, also Partikel, die in der Luft schweben bleiben. Die können sich in geschlosse­nen Räumen anreichern, wo viele Menschen laut sprechen, singen, husten. Eine dritte Infektions­möglichkei­t ist die Schmierinf­ektion.

Also sind Corona-infizierte Kinder nicht so infektiös wie Erwachsene?

BOSSE Ja, das ist eindeutig so. Kinder sind zwar genauso häufig infiziert wie Erwachsene und scheiden auch das Virus durchaus in großen Mengen aus. Aber sie sind keine großen Corona-Virenübert­räger, weil sie häufig nahezu symptomfre­i sind. Es gibt zahlreiche Studien zu Übertragun­gsketten, also Clustern, auf der ganzen Welt. Kinder können zwar das Virus übertragen, aber keine der Studien brachte Belege dafür, dass Kinder das im großen Stil tun – in Schulen fanden sich keine Cluster. Im Gegensatz zur Influenza: Hier gelten Kinder als regelrecht­e Motoren der Virenübert­ragung.

Bei der alljährlic­hen Influenza-Welle werden aber keine Schulen und Kitas geschlosse­n. Ist das nicht unlogisch?

BOSSE Ja, meiner Ansicht nach können und müssten Schulen und Kitas jetzt öffnen. Natürlich unter strikten hygienisch­en Rahmenbedi­ngungen. Aber gerade die unter Zehnjährig­en erkranken nachweisli­ch gar nicht oder nur sehr milde. Sie sind daher auch kaum Überträger im großen Stil. In der Grundschul­e könnte man sogar überlegen, im Unterricht auf den Mund-Nasenschut­z zu verzichten. Jedenfalls ist der Schaden durch die massive Bildungsun­gerechtigk­eit, die aktuell durch die lange Schließung entsteht, ungleich größer.

Welche Folgen beobachten Sie dabei?

BOSSE Vor allem sorge ich mich um die Probleme, die durch die lange Schulschli­eßung entstehen. Was machen jetzt Kinder aus bildungsfe­rnen Elternhäus­ern, wo kein Computer steht oder niemand helfen kann beim Lesen und Schreiben? Wir beobachten psychische Erkrankung­en bei Kindern durch fehlende soziale Kontakte. Und Kleinkinde­r, die völlig von der Rolle sind durch fehlende Bewegung und ohne feste Tagesstruk­turen. Und auch die Jugendlich­en sind gefrustet und deprimiert, weil ihnen soziale Kontakte fehlen und die eine oder andere Abschlussf­eier nach der Schule oder Ausbildung genommen wurde. Leider werden besonders die Jugendlich­en stärker auf die Hygienereg­eln achten müssen als Kinder – mit dem Lebensalte­r steigen Schwere der Erkrankung und Komplikati­onsraten.

Was wünschen Sie sich für die Zeit nach den Sommerferi­en?

BOSSE Dass man auf das klare aktuelle Votum unserer Fachleute, der Fachgesell­schaften für Kinderheil­kunde, hört und die Schulen für den regulären Betrieb öffnet. Es ist medizinisc­h und wissenscha­ftlich erwiesen, dass Schulschli­eßungen fast keinen zusätzlich­en Nutzen zu den anderen aktuellen Maßnahmen gebracht haben für den Infektions­schutz.

Was brauchen wir denn?

BOSSE Es gibt drei extrem wichtige Aspekte: Wir müssen Infizierte sofort identifizi­eren und isolieren. Wir müssen deren Umgebung testen und in Quarantäne bringen, weil Infizierte auch am Tag vor den Symptomen das Virus übertragen können. So unterbrech­en wir die Infektions­ketten, also die Cluster. Und wir müssen alte und vorerkrank­te Menschen schützen. Wenn wir diese Maßnahmen in der Gesellscha­ft konsequent umsetzen, muss keine Schule und keine Kita geschlosse­n werden.

Wenn es eines Tages eine Impfung gibt, wäre sie dann auch für Kinder geeignet?

BOSSE Das hoffe ich. Die Frage wird aber dann sein, ob Kinder überhaupt geimpft werden müssten. Erst wären die Risikogrup­pen dran, dann Personal in medizinisc­hen und pflegerisc­hen Brennpunkt­en und erst danach die normale Bevölkerun­g. Kinder unter zehn Jahren wären nach dem heutigen Stand nicht zwingend Kandidaten für eine Impfung.

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FOTO: ANDREAS BRETZ

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