Moers-Festival als Livestream – mit Applaus aus der Konserve
MOERS In Corona-Zeiten gelten Regeln, mit denen auch das Moers-Festival umgehen muss. Die Veranstalter müssen improvisieren – aber das konnten sie ja schon immer am besten. Das Team um den künstlerischen Leiter Tim Isfort hat es geschafft, ein Festival mit Live-Konzerten ohne Publikum, aber mit Applaus zu schaffen, so dass etwas vom Geist vergangener Tage gewahrt blieb. Hauptsächlich
Mitarbeiter dürfen die Konzerte live erleben, aber ob sich dieses Erlebnis positiv vom heimischen LiveStream abhebt, sei dahingestellt.
Der Applaus kommt vom Band, von historischen Moers-Konzerten. In das Spiel des Quartetts um den Ruhrgebiets-Schlagzeuger Achim Krämer und den umtriebigen Münsteraner Saxophonisten Jan Klare grätscht zum Beispiel manchmal der Beifall, den das Sun Ra Arkestra 1979 bekommen hat. Ein Techniker ist eigens für die Einspieler abgestellt – und oft fügt sich der Jubel organisch ein, einige Male stört er aber auch in stillen Momenten.
Die Musik des Krämer-Quartetts scheint aus diesen stillen Momenten Kraft zu schöpfen für neue ekstatische Ausbrüche. In ihnen setzt sich Posaunist Hilary Jeffery ab und zu eine Maske auf und rezitiert Unverständliches. Aber egal, die Musik ist die Botschaft.
Und die Botschaft ist – wie immer in Moers – völlige Freiheit. Eine noch bessere, kraftvollere und trotzdem fein akzentuierte Version der vollkommen freien Improvisation, die aus dem Moment schöpft, bringt das neu gegründete Ensemble 51% um die Saxophonistin Silke Eberhard in die Halle. Der Titel des Projekts spielt auf ein bis heute bestehendes krasses Missverhältnis an: 51 Prozent der Weltbevölkerung sind Frauen. Im Jazz spielen sie wie in anderen Bereichen der Gesellschaft allerdings eine stark untergeordnete Rolle. „Wir möchten das ändern“, behauptet das Moers Festival
im Ankündigungstext zur neuen Formation.
Der freien Improvisation stehen durchkomponierte Klänge wie die des Niels Klein Trio gegenüber, das mit dem großen EOS Kammerorchester musiziert, oder die in Anspielung auf die Infektionswege so genannten „Aerosolos“von Chilly Gonzales. Gut 100.000 Klicks, schätzen die Veranstalter am Montagmittag, wird ihr in Zusammenarbeit mit dem Fernsehsender Arte hergestellter Festival-Stream am Ende gehabt haben. Auch wenn man bei solchen Zahlen skeptisch sein muss, klingt das nach einem großen Erfolg – und die Künstler, die teilweise bis Ende des Jahres überhaupt keine weiteren Auftritte verzeichnen, werden dem Team die Live-Möglichkeit unter tristen Bedingungen auf jeden Fall danken. Ihre Situation bringt den legendären Konzertveranstalter Berthold Seliger im Interview auf dem Festival zur Forderung: „Was es jetzt braucht, ist das bedingungslose Grundeinkommen!“