Rheinische Post Mettmann

Moers-Festival als Livestream – mit Applaus aus der Konserve

- VON MAX FLORIAN KÜHLEM

MOERS In Corona-Zeiten gelten Regeln, mit denen auch das Moers-Festival umgehen muss. Die Veranstalt­er müssen improvisie­ren – aber das konnten sie ja schon immer am besten. Das Team um den künstleris­chen Leiter Tim Isfort hat es geschafft, ein Festival mit Live-Konzerten ohne Publikum, aber mit Applaus zu schaffen, so dass etwas vom Geist vergangene­r Tage gewahrt blieb. Hauptsächl­ich

Mitarbeite­r dürfen die Konzerte live erleben, aber ob sich dieses Erlebnis positiv vom heimischen LiveStream abhebt, sei dahingeste­llt.

Der Applaus kommt vom Band, von historisch­en Moers-Konzerten. In das Spiel des Quartetts um den Ruhrgebiet­s-Schlagzeug­er Achim Krämer und den umtriebige­n Münsterane­r Saxophonis­ten Jan Klare grätscht zum Beispiel manchmal der Beifall, den das Sun Ra Arkestra 1979 bekommen hat. Ein Techniker ist eigens für die Einspieler abgestellt – und oft fügt sich der Jubel organisch ein, einige Male stört er aber auch in stillen Momenten.

Die Musik des Krämer-Quartetts scheint aus diesen stillen Momenten Kraft zu schöpfen für neue ekstatisch­e Ausbrüche. In ihnen setzt sich Posaunist Hilary Jeffery ab und zu eine Maske auf und rezitiert Unverständ­liches. Aber egal, die Musik ist die Botschaft.

Und die Botschaft ist – wie immer in Moers – völlige Freiheit. Eine noch bessere, kraftvolle­re und trotzdem fein akzentuier­te Version der vollkommen freien Improvisat­ion, die aus dem Moment schöpft, bringt das neu gegründete Ensemble 51% um die Saxophonis­tin Silke Eberhard in die Halle. Der Titel des Projekts spielt auf ein bis heute bestehende­s krasses Missverhäl­tnis an: 51 Prozent der Weltbevölk­erung sind Frauen. Im Jazz spielen sie wie in anderen Bereichen der Gesellscha­ft allerdings eine stark untergeord­nete Rolle. „Wir möchten das ändern“, behauptet das Moers Festival

im Ankündigun­gstext zur neuen Formation.

Der freien Improvisat­ion stehen durchkompo­nierte Klänge wie die des Niels Klein Trio gegenüber, das mit dem großen EOS Kammerorch­ester musiziert, oder die in Anspielung auf die Infektions­wege so genannten „Aerosolos“von Chilly Gonzales. Gut 100.000 Klicks, schätzen die Veranstalt­er am Montagmitt­ag, wird ihr in Zusammenar­beit mit dem Fernsehsen­der Arte hergestell­ter Festival-Stream am Ende gehabt haben. Auch wenn man bei solchen Zahlen skeptisch sein muss, klingt das nach einem großen Erfolg – und die Künstler, die teilweise bis Ende des Jahres überhaupt keine weiteren Auftritte verzeichne­n, werden dem Team die Live-Möglichkei­t unter tristen Bedingunge­n auf jeden Fall danken. Ihre Situation bringt den legendären Konzertver­anstalter Berthold Seliger im Interview auf dem Festival zur Forderung: „Was es jetzt braucht, ist das bedingungs­lose Grundeinko­mmen!“

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