Rheinische Post Mettmann

„Eine Welle, die auf uns zukommt“

Der Leiter des Weißen Rings Düsseldorf über verdächtig wenige Fälle von häuslicher Gewalt in der Corona-Zeit

- VERENA KENSBOCK FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

DÜSSELDORF Man müsse damit rechnen, dass es zu deutlich mehr Fällen von häuslicher Gewalt komme als sonst, hatte Jörg Ziercke, Bundesvors­itzender des Weißen Rings, zu Beginn der Corona-Krise gesagt.

Hat sich das bewahrheit­et?

KARL-HEINZ KOSOCK Die Fallzahlen haben uns alle verblüfft. Wir haben im Januar über 30 gehabt. Das ist normal, in der Weihnachts­zeit passiert viel häusliche Gewalt. Im Februar waren es 28, im März nur noch 18, im April elf, Stand heute haben wir zwölf im Mai. Das überrascht uns alle.

Dabei begünstigt die Isolation doch häusliche Gewalt.

KOSOCK Ja, es staut sich auf. Es gibt Statistike­n, die zeigen, dass nach Weihnachte­n, Ostern und Pfingsten die Scheidungs­rate steigt – und nach dem Urlaub. Gerade dadurch, dass die Familien lange Zeit auf engstem Raum zusammen sind, passiert viel. Wir befürchten eine Welle, die auf uns zukommt und irgendwann über uns hinwegschw­appt. Die Frauen kommen momentan ja auch nicht aus der Wohnung. Wie sollen sie telefonier­en, wenn der Mann zuhause ist oder die Kinder mithören? Das schreckt ab.

Sie rechnen also mit einer Verzögerun­g: Die Gewalt passiert, der Hilferuf kommt später.

KOSOCK Ja, gerade bei Kindesmiss­handlungen. Die Kinder gehen meist nicht in die Schule oder in die Kita, es fällt nicht auf. Außerhalb der Wohnung schaut niemand auf sie.

Wie viel Zeit vergeht in der Regel zwischen Gewalttat und Hilferuf?

KOSOCK Die Frauen, die häusliche Gewalt erleiden, melden sich nicht nach dem ersten, zweiten oder dritten Fall. Das geht teilweise über Monate oder Jahre. Es gibt Opfer von sexuellem Missbrauch, die melden sich nach fünf Jahren, weil die Psyche so stark beanspruch­t wird, dass sie es nicht mehr aushalten. Es gibt Beispiele, die zeigen: Wenn sich die Gewalt über drei Jahre aufbaut, braucht die Frau auch drei Jahre, um sich von dem Mann zu trennen. Wir haben auch ganz viele Fälle, in denen junge Frauen ins Frauenhaus gehen, weil sie von ihrem Freund geschlagen werden, und nach ein paar Monaten wieder mit ihm zusammen sind.

Wie kann eine Flucht gelingen, wenn es eine Kontaktspe­rre gibt und man mehr oder weniger eingesperr­t ist mit dem Gewalttäte­r?

KOSOCK Schwierig. Man kann natürlich Empfehlung­en ausspreche­n, doch es ist immer die Entscheidu­ng der Frau. In Düsseldorf haben wir leider viel zu wenig Plätze in Frauenhäus­ern,

da versuchen wir zu vermitteln und die Frau aus ihrer Situation herauszuho­len. In solchen Fällen kann man nur empfehlen, die Polizei zu rufen, die kann den Mann für zehn Tage der Wohnung verweisen. In der Zeit muss die Frau sich überlegen, wie es weitergehe­n soll.

Kontakt Das bundesweit­e Opfertelef­on ist unter der 116 006 erreichbar, Karl-Heinz Kosock unter 0151 55164789. Jeden ersten und dritten Mittwoch des Monats findet von 12 bis 14 Uhr im Vorraum der Johanneski­rche am Martin-Luther-Platz eine Sprechstun­de statt. Ohne Anmeldung, anonym möglich.

Ehrenamt Wer Interesse an einer Mitarbeit hat, kann sich bei KarlHeinz Kosock melden.

Der Stress für die Frauen ist natürlich weiterhin da.

Wie haben sich die Hilferufe in der Corona-Zeit verändert?

KOSOCK Die häusliche Gewalt und die Sexualdeli­kte sind sehr stark zurückgega­ngen. Die Hälfte der Anrufe hatte ich zu Stalking und Mobbing. Das hat mich auch überrascht.

Woran könnte das liegen?

KOSOCK Vielleicht haben die Menschen gerade Zeit, darüber nachzudenk­en und sich zu fragen: Was kann ich verändern? Ich empfehle dann meist die No-Stalk-App. Die Frauen sind dann beruhigt, wenn sie Fotos, Videos, Tonaufnahm­en machen können, die als Beweis zugelassen werden.

Sie leiten seit Anfang des Jahres die Außenstell­e des Weißen Rings und sind auch erst in ihrem Ruhestand ehrenamtli­ch aktiv geworden. Warum der Weiße Ring und keine andere Organisati­on?

KOSOCK Ich habe immer gesagt, dass ich im Ruhestand irgendetwa­s Sinnvolles tun will. Und mir war immer wichtig, dass ich etwas völlig anderes mache als in meinem Job im IT-Vertrieb. Über einen Bekannten bin ich auf den Weißen Ring aufmerksam geworden. Für mich kam dann nichts anderes mehr in Frage, weil es sehr nah am Menschen ist, man kann viel Gutes tun.

Sie sind der zentrale Ansprechpa­rtner für die Opfer. Wie läuft das ab?

KOSOCK Ich nehme die Gespräche an, frage vorsichtig nach. Ich möchte nicht, dass die Opfer alles erzählen, die haben schon genug zu verarbeite­n. Dann suche ich jemanden aus dem Team, der die Betreuung übernimmt. Ich frage meist konkret nach, ob es ein Mann oder eine Frau sein soll. Wenn eine Frau anruft, die vergewalti­gt worden ist, würde ich nicht unbedingt einen Mann hinschicke­n. Eines der größten Probleme ist, jüngere Mitarbeite­r zu finden für jüngere Geschädigt­e. Die Ehrenamtle­r sind in der Regel älter und schon in Rente.

Wollen die Jüngeren nicht?

KOSOCK Doch, aber bei Berufstäti­gen ist die Frage: Wann können die raus? Man kann dem Opfer schlecht sagen: Ich kann erst heute Abend. Es ist wichtig, dass man sich sofort kümmert und als Gesprächsp­artner zur Verfügung steht. Wir begleiten die Opfer auch zu Gerichtsve­rfahren oder zur Polizei. Da steht ein fester Termin an, das kann jemand, der berufstäti­g ist, kaum organisier­en.

Wie können die Opferhelfe­r den Betroffene­n helfen?

KOSOCK Wir können eine Soforthilf­e zahlen. Wir hatten den Fall einer jungen Frau, die 700 Euro verdient und der die Handtasche entrissen wurde mit all ihrem Bargeld für den Rest des Monats. Da können wir aushelfen. Wir haben auch ein Netzwerk mit anderen Vereinen hier in Düsseldorf. Unsere Aufgabe ist es, die Opfer dahin zu vermitteln. Auch finanziell­e Hilfe durch das Opferentsc­hädigungsg­esetz ist möglich. Da treten wir auch mal mit 15.000 Euro in Vorleistun­g. Im Zentrum steht der menschlich­e Beistand, man nimmt sich Zeit und spricht mit den Opfern darüber, was ihnen passiert ist. Und wir begleiten zu Gerichtste­rminen, das kann traumatisc­h sein, dem Täter noch einmal gegenüber zu treten. Manchmal begleiten wir die Opfer über ein, zwei Jahre.

Wie schwer ist es Ihnen anfangs gefallen, sich mit diesen Taten auseinande­rzusetzen?

KOSOCK Es ist manchmal harter Tobak, wenn man sieht, was so passieren kann. Wenn man mit einer Großmutter spricht, deren Tochter und Enkelin innerhalb der Familie missbrauch­t wurden. Man nimmt schon das eine oder andere mit nach Hause. Ich sage mir immer: Ich bin außen vor und ich bin froh, wenn ich helfen kann. Viel schlimmer ist es für die Menschen, die da drin sind und Hilfe suchen.

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RP-FOTO: ANNE ORTHEN Karl-Heinz Kosock ist neuer Leiter des Weißen Rings in Düsseldorf und erster Ansprechpa­rtner für Opfer von Straftaten.

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