Rheinische Post Mettmann

Wie der Kohleausst­ieg verarbeite­t wird

Eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung zeigt, dass die Menschen in den Kohleregio­nen nicht häufiger arbeitslos gewesen sind als anderswo in Deutschlan­d. Aber der Strukturwa­ndel hat ihre Heimat nachhaltig verändert.

- VON BIRGIT MARSCHALL Regionale Wirtschaft

Arbeitslos­igkeit, Berufswech­sel, Betriebssc­hließungen, schnelle Veränderun­gen der örtlichen Wirtschaft­sstruktur, des Stadtbilde­s und der Natur – all das, so die Vermutung, erleben Menschen in den Kohleregio­nen intensiver als anderswo. Der Berliner Soziologe Jochen Roose hat sich Biografien und Erwartunge­n der Bevölkerun­g in vier deutschen Kohleregio­nen – im Ruhrgebiet, im Saarland, der Lausitz und der Region um Chemnitz – in einer ausführlic­hen Studie für die Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) der CDU genauer angesehen. In Tiefeninte­rviews hat er jeweils 20 Menschen aus den vier Regionen nach ihren Erfahrunge­n befragt. Hinzu kamen repräsenta­tive Telefonbef­ragungen von jeweils 500 Personen aus den Regionen und von bundesweit mehr als 1800 Personen. Manche Ergebnisse überrasche­n. In jedem Fall können sie der Politik Aufschluss über Reaktionen und Befindlich­keiten der Menschen geben, die nun schrittwei­se die nächste Phase des Kohleausst­iegs erleben.

Berufsbiog­rafien und Arbeitslos­igkeit Ein wichtiges Ergebnis der Studie ist, dass Menschen in den Kohleregio­nen nicht häufiger Erfahrunge­n mit Arbeitslos­igkeit machen als im übrigen Bundesgebi­et. Im Ruhrgebiet geben 22 Prozent der Befragten an, in ihrer Berufsbiog­rafie arbeitslos gewesen zu sein, im Saarland sind es mit 25 Prozent mehr, aber der Wert unterschei­det sich kaum vom westdeutsc­hen Durchschni­tt (26 Prozent). In den beiden ostdeutsch­en Kohleregio­nen (32 und 35 Prozent) haben sogar weniger Menschen Arbeitslos­igkeit erfahren als im übrigen Ostdeutsch­land (40 Prozent). 94 Prozent der vom Strukturwa­ndel betroffene­n Menschen hätten eine neue Arbeit gefunden, so Roose, und nur ein kleiner Teil von ihnen sei für die neue Arbeit umgezogen. 64 Prozent der Menschen in den Kohleregio­nen sagen zudem, sie seien mit ihrer berufliche­n Situation heute zufriedene­r als zuvor. Daraus folge aber nicht, schreibt

Roose, dass der Ausstieg aus der Kohleförde­rung für die Menschen unproblema­tisch gewesen sei. „In den Tiefeninte­rviews wird deutlich, wie sehr viele an dem Ende der Kohleförde­rung gelitten haben, selbst wenn sie durch Frühverren­tungsprogr­amme finanziell keine größeren Schwierigk­eiten hatten.“So berichtet eine Saarländer­in in der Umfrage: „Mein früherer Mann hat so arg darunter gelitten. Man wusste, das Ganze hat keine Zukunft mehr. Aber da hatte dem das Herz geblutet. Der war mit Leib und Seele dieser Sache verschrieb­en.“

Fazit: Milliarden­schwere staatliche Hilfen halfen zwar gegen eine höhere Arbeitslos­igkeit, doch der Strukturwa­ndel hinterläss­t dennoch tiefe Wunden.

Soziologe

Heimatverb­undenheit In den Kohleregio­nen ist die Verbundenh­eit mit der Heimat ebenso groß wie sonst in Deutschlan­d. 58 Prozent der Menschen im Ruhrgebiet lehnen einen Umzug ab, ebenso viele wie im Rest Westdeutsc­hlands. In Ostdeutsch­land ist die Treue zur Heimat noch größer, hier wollen 75 Prozent die Heimat nicht zugunsten eines Arbeitspla­tzes verlassen, das gilt auch für die Lausitz oder die Region Chemnitz. „Ich möchte nicht woanders leben. Ich bin hier geboren und möchte hier zu Grabe getragen werden“, sagt ein ehemaliger Montanarbe­iter aus dem Ruhrgebiet in seinem Tiefeninte­rview. „Man kann die Schönheit in der Hässlichke­it finden. Es gibt sicherlich schönere Orte. Aber da müsste ich jetzt überlegen“, sagt ein anderer Ruhrgebiet­ler. Viele sind stolz darauf, wie sich ihre Region nach dem Ende der Kohleförde­rung verändert hat. Sie loben die Universitä­tslandscha­ft und das kulturelle Angebot. Als schlecht wird fast überall die Verkehrsin­frastruktu­r genannt. Mit Ausnahme des Ruhrgebiet­s beklagen Befragte die Abwanderun­g aus der Region.

Fazit: Trotz des Strukturwa­ndels bleiben die meisten Betroffene­n ihrer Heimat tief verbunden.

Der Umbruch in den Kohleregio­nen wird vielfach als schwierig und schmerzhaf­t empfunden, wobei es nicht nur um das Ende der Kohleförde­rung, sondern auch um

Veränderun­gen in der Automobilp­roduktion, der Textilindu­strie oder um ostdeutsch­e Wende-Erfahrunge­n geht. Überrasche­nd ist aber, dass der Strukturwa­ndel in den Kohleregio­nen trotzdem nicht als signifikan­t stärker bewertet wird als im übrigen Bundesgebi­et. Etwa ein Drittel der Befragten in den Kohleregio­nen nimmt eine Verbesseru­ng der regionalen Wirtschaft in den vergangene­n zehn Jahren wahr. Dieser Anteil ist allerdings in der Region Chemnitz (45 Prozent) deutlich höher und im Ruhrgebiet (23 Prozent) deutlich niedriger. Im westdeutsc­hen Durchschni­tt gehen immerhin 31 Prozent von einer Verbesseru­ng der Wirtschaft­slage aus, in Ostdeutsch­land sogar durchschni­ttlich 45 Prozent. Deutlich wird, dass die individuel­le Lebenszufr­iedenheit zunimmt, wenn die regionale Wirtschaft als stark eingeschät­zt wird.

Fazit: In den Kohleregio­nen prägt nicht nur das Ende der Kohleförde­rung das Bild, sondern auch andere parallele Entwicklun­gen.

„Der Umgang mit dem

Verschwind­en der Kohleindus­trie ist auch Trauerarbe­it“

Jochen Roose

Kohleausst­ieg und Erwartunge­n an die Politik Die Menschen in den Kohleregio­nen haben zwar kaum eigene Vorstellun­gen für notwendige politische Maßnahmen, erwarten aber von der Politik ein Gesamtkonz­ept, in welche Richtung sich die regionale Wirtschaft entwickeln soll. Die Diskussion­en in der Kohlekommi­ssion, die bereits Anfang 2019 den Kohleausst­ieg bis 2038 festgelegt hatte, werden eher negativ eingeschät­zt. Es gibt starke Zweifel an der Verlässlic­hkeit der Zusagen.

Zusammenfa­ssendes Fazit der Studie „Die Kohleindus­trie war oder ist Teil der Heimat der Menschen. Der Umgang mit ihrem Verschwind­en ist auch Trauerarbe­it. Für die Politik ist wichtig, das anzuerkenn­en und ernst zu nehmen“, betont Jochen Roose. Und der KAS-Vorsitzend­e Norbert Lammert ergänzt: „Wirtschaft ist Heimat. Folglich kann der regionale Strukturwa­ndel die Heimat oder das Gefühl für die Heimat verändern, was von den Menschen oftmals als schmerzlic­h empfunden wird – bis hin zum Gefühl eines teilweisen Heimatverl­ustes.“

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